Der Norweger vom Tegernsee

Gerd Holzheimer erinnert mit einer Biographie an Olaf Gulbransson

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rang und Bedeutung des norwegisch-bayerischen Künstlers Olaf Gulbransson (1873–1958), der vor allem durch seine Arbeiten für die Münchner Zeitschrift Simplicissimus und durch seine unkonventionelle äußere Erscheinung weithin bekannt ist, sind seit Jahrzehnten unumstritten. Durchaus umstritten jedoch ist sein politisches und öffentliches Verhalten oder auch Nicht-Verhalten, in den Jahren des Ersten Weltkriegs und vor allem in der NS-Zeit. Und überhaupt weiß man, trotz etlicher persönlicher Erinnerungen und mehrerer biografischer Studien, nicht genug über Olaf Gulbranssons Lebenslauf und seine schillernde Künstlerpersönlichkeit.

Der in Gauting bei München lebende Schriftsteller und Publizist Gerd Holzheimer, dem Gulbranssons Werk seit seiner Kindheit vertraut ist, hat sich aufgemacht, diesem Nicht- oder Wenigwissen mit einer umfassenden, reich bebilderten Biographie abzuhelfen – Biographie mit „ph“ bitte, denn, wie er am Ende seines Buchs erläutert, ihm habe sich niemals erschlossen, „weshalb man ohne Not aus dem altgriechischen ‚Ph‘, das ebenso wenig wie das jetzige Griechisch ein ‚f‘ kennt, ein ‚f‘ macht“. Eine stattliche Biographie also, eine gelehrte Studie, die sich zum Vergnügen ihrer Leser:innen nur relativ locker am Zeitpfeil dieses Künstlerlebens entlang hangelt und eher auf die Aussagekraft von Umwegen und Abschweifungen setzt. Manchmal scheint die „große Linie“ verloren zu gehen, vor allem, was die kunsthistorische Einordnung des genialen Zeichners angeht. Aber das scheint nur so. Denn immer wieder wird sie sichtbar und deutlich, auch wenn oft unglaublich komische Anekdoten und viele erhellende Geistesblitze sie bisweilen zu verhüllen drohen. Genau das jedoch macht die Lektüre spannend und süffig.

1905 hat Gulbransson die Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma illustriert, und in mehrfacher Hinsicht sieht Holzheimer den Künstler selber ebenfalls als lebenslangen Lausbuben. 

Ein Lausbub denkt nicht nach über sein Tun. Er ist halt so. Wie ein Haarschüppl unfrisierbar, unregierbar, undomestizierbar. Das ist eine Seite von Olaf Gulbransson (eine von vielen), eine andere ist große Gelassenheit, tiefe Sehnsucht nach Ausgleich und Ruhe. 

Jedenfalls zeichnet der Biograph den Künstler als einen sich immer schon und immer wieder durch seinen Alltag lavierenden Nicht-Rationalisten, als einen menschenfreundlichen und gelegentlich auch zu nachgiebigen Vertreter des „Sowohl-als-Auch“ – ein Gegenbild also zu einem strikt an Maximen und Prinzipien orientierten Mann des „Entweder-Oder“. Holzheimer tut noch etwas, was nicht ohne Widerspruch bleiben wird: Er rückt Olaf Gulbransson in die Nähe des Barock, einer Epoche, die Natur, Kunst und Leben als eine einzige, turbulente Einheit betrachtete. 

Barock in Bayern ist immer etwas ganz Unmittelbares, Jederzeitiges, Jetzt-Zeitiges; es ist ein Lebensgefühl der Lust, des wirbelnden Tanzes, der Überschreitung konventioneller Grenzen. 

Man wundert sich also nicht, oder nur ein bisschen, wenn er, Gulbranssons Mut zur freien Fläche würdigend, nicht nur Vergleiche mit Zeitgenossen wie Thomas Theodor Heine, Alfred Kubin, Karl Arnold oder Walter Trier anstellt, sondern auch die Gemälde von Giovanni Battista Tiepolo im Treppenhaus der Würzburger Residenz erwähnt. Derart anregende Assoziationen gibt es mehrere in diesem Buch – wer würde vermuten, dass Johann Heinrich Zedler mit seinem Großen vollständigen Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste (Band 24, 1740) oder die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann mit ihrer Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (1966) in einem Buch über Olaf Gulbransson vorkommen?

Der Autor hat sich intensiv mit der Historie und der Natur Norwegens und mit der Familiengeschichte der Gulbranssons beschäftigt, was seiner detailreichen Schilderung der Kindheit und Jugend des Künstlers sehr zugute gekommen ist. Schon ab 1890 hat Gulbransson Karikaturen in norwegischen Blättern publiziert und bereits früh sind wesentliche Stilmerkmale des späteren Meisters zu erkennen. Das wusste man bisher nicht so genau. Naturgemäß aber richtet sich Holzheimers Fokus bald auf Gulbranssons Anfänge in München, wo er nicht nur den immer noch dominierenden „Malerfürsten“ des späten 19. Jahrhunderts auffiel, sondern auch der um 1900 sumpfblühenden Schwabinger Bohème und dem Simplicissmus-Verleger Albert Langen. Im Dezember 1902 erschien dort Gulbranssons erste Zeichnung und bereits im März 1905 heißt es in der Zeitschrift Der Kunstwart: „Hier tritt ein Karikatur-Talent allerersten Ranges auf, und zwar ein fix und fertig ausgebildetes“. 

Schwabinger Bohème – Gulbransson, nun ein „berühmt werdender Zeitgenosse“, kannte nicht nur Langens 1832 geborenen Erfolgsautor Bjørnstjerne Bjørnson und andere Landsleute, er kannte bald nahezu alle sich in München tummelnden Künstlerinnen und Künstler. Und fast alle schätzten das hochtalentierte Naturgewächs aus dem Norden, zumindest so lange, bis sie von ihm porträtiert wurden. „So eine Unverschämtheit muss man sich gefallen lassen“, schimpfte zum Beispiel Karl Valentin. Max Halbe, Hermann Sudermann, Lovis Corinth, Otto Julius Bierbaum, Frank Wedekind, Annette Kolb, Ernst Mühsam, Joachim Ringelnatz, Heinrich und Thomas Mann, Gustav Meyrink, Roda Roda, Ludwig Ganghofer, Gabriele Münter, Franziska zu Reventlow und viele andere Persönlichkeiten treten auf oder werden herbeizitiert. Hier ist Gerd Holzheimer ganz in seinem Element, und wer meint, bereits alles über die bestens dokumentierte Schwabinger Bohème zu wissen, wird von einem exzellenten Kenner der Details eines Besseren belehrt.

In dieser Biographie, die auf intensiver Recherche- und Archivarbeit basiert, kommt auch das Private nicht zu kurz und gerade hierfür hat der Autor zahlreiche ausdrucksstarke Fotos gefunden. 1906 heiratete Gulbransson zum zweiten Mal und aus dieser Verbindung mit Grete Jehly stammt der heiß geliebte Sohn „Oleman“, der später ein erfolgreicher Architekt werden sollte. Das Schwabinger Bohème-Familienleben im „Kefernest“ am Englischen Garten wurde im November 1918 mehrfach durch Maschinengewehrfeuer gestört – Grete ängstigte sich sehr, während Olaf die Revolution mehr oder weniger verschlief – und ging dann nur noch kurze Zeit gut. 1922 kam es zur Scheidung, und schon ein Jahr später heiratete der bereits weithin anerkannte Zeichner ein letztes Mal. 

Mit seiner dritten Frau Dagny verschwand Gulbransson für ein paar Jahre aus München – als Person, nicht aber als Zeichner für den Simplicissimus. Wobei die politischen Karikaturen weniger wurden und zahlreiche über allem Tagesgeschehen schwebende Motive in seinen Blick gerieten, zum Beispiel der Frühling – „Das kleinste Wahre ist groß“ schrieb er unter eine seiner schönsten Zeichnungen. Die turbulenten Jahre bis 1929, als Olaf und Dagny den über dem Tegernsee gelegenen Schererhof erwarben – den Ausblick von dort in die Berge wird er immer wieder neu zeichnen –, werden ebenso detailreich geschildert wie Gulbranssons Alltagsleben in den fast drei Jahrzehnten bis zu seinem Tod, in denen dieser Hof sein Lebensmittelpunkt war. Er war es auch 1933, als mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten das rasche Ende der politischen Satiren im Simplicissimus begann und Redaktionskollegen wie Thomas Theodor Heine und Franz Schoenberner aus Deutschland fliehen mussten. 

Gulbransson blieb, und damit war klar, was Holzheimer so formuliert: „Wer nicht emigriert, kommt kaum umhin, zumindest partiell mitzumachen“. Die massiven nationalsozialistischen Beeinträchtigungen des Simplicissimus nahmen von Monat zu Monat zu. Im Abschnitt „Der Simplicissimus im Nationalsozialismus“ wird das mehr als deutlich, und ob man sich mit Blick auf Gulbransson dem Urteil des Biographen anschließen möchte, sei dahingestellt. Der nämlich schreibt: 

Anders als Kubin hat Olaf Gulbransson sich schon vor politische Karren spannen lassen, vor verschiedene – ohne je selbst politisch zu sein; mit diesem Paradoxon wird sich jeder abfinden müssen, der sich ein Bild von ihm machen möchte – oder sich auch nicht abfinden. 

Die Geschehnisse in Bad Wiessee im Sommer 1934, Teil des erbitterten Machtkampfs innerhalb der NS-Führung, der sich vor allem am SA-Führer Ernst Röhm entzündete, konnte man vom Schererhof aus fast live mitverfolgen. Begegnungen mit Nazi-Größen wie Joseph Goebbels, Joachim von Ribbentrop oder dem gefürchteten Gauleiter Adolf Wagner blieben nicht aus, und dass die NS-Zeit dem Künstler – nach einigen „Anfangsschwierigkeiten“ – enorme berufliche Erfolge und mehrere wichtige Auszeichnungen bescherte, zum 70. Geburtstag etwa die Goethe-Medaille und den norwegischen Kulturpreis, ist nicht zu ignorieren. Schuldlos schuldig? Im Gegensatz zu seinem weltberühmten Landsmann Knut Hamsun oder zum bayerischen Biologen und Theaterautor Max Dingler, die man beide als hundertprozentige Nazis bezeichnen darf, scheint Olaf Gulbransson all die Jahre hindurch der egoistisch-unpolitische Ignorant und widerborstige Lausbub geblieben zu sein, der er immer schon gewesen ist. Mehrfach hat man sein Verhalten in der NS-Zeit als „stoischen Opportunismus“ charakterisiert – eine Bezeichnung, die Holzheimer nicht gelten lässt: 

‚Stoisch‘: Ja, das war er. ‚Opportunist‘: in Einzelfällen ja, durchgehend nein! Anpassung ist etwas anderes. Olaf Gulbransson passt sich nicht an … Olaf Gulbransson ist und bleibt Olaf Gulbransson. Wem das nicht gefällt, wird wenig erübrigen können für den Menschen Gulbransson. Es bleibt der Künstler. 

Dieser Künstler spielte auch noch in der jungen Bundesrepublik eine gewisse öffentliche Rolle, und der Autor versäumt es nicht, seinen Einfluss auf begabte Schüler:innen wie Franziska Bilek und Josef Oberberger sowie die Bemühungen Dagnys um das von Theodor Heuss und Ludwig Erhard geförderte, vom Star-Architekten Sep Ruf errichtete und 1966 eröffnete Tegernseer Museum zu schildern. 

Mehr geht nicht. Um Gerd Holzheimers Werk wird auf unabsehbare Zeit nicht herumkommen, wer sich für Olaf Gulbransson und seine Zeit interessiert. Und man wünscht ihm ein lautes und vielstimmiges Echo weit über die Fachwelt hinaus. Denn wie klug, belesen und gelehrt sein Verfasser auch immer sein mag: Olaf Gulbransson – Eine Biographie ist zuallererst ein Buch für ein breites, kulturhistorisch interessiertes Publikum. Nicht zuletzt aber ist es ein Buch der Liebe, einer lebenslangen Liebe zu diesem Norweger vom Tegernsee. Das spürt man, und das ist auch gut so.

Titelbild

Gerd Holzheimer: Olaf Gulbransson. Eine Biographie.
Allitera Verlag, München 2021.
328 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783962332358

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