Neue Essays über Lust und Scham:Raus aus dem Stahlbad der Ironie

Neue Essays über Lust und Scham: "Wir können unsere Scham nicht loswerden, ohne dabei auch unsere Menschlichkeit zu verlieren." - Odile Kennel (li.) und Lea Schneider.

"Wir können unsere Scham nicht loswerden, ohne dabei auch unsere Menschlichkeit zu verlieren." - Odile Kennel (li.) und Lea Schneider.

(Foto: Charlotte Werndt)

Lea Schneider und Odile Kennel zerlegen in ihren neuen Essays über Scham und Lust alles, was der Philosophie seit der Aufklärung heilig ist.

Von Fritz Göttler

Schreiben ist mühsam, es gibt eine Menge Risiken, zumal wenn man Gedichte schreibt, als Frau, über die Liebe. Lea Schneider, bekannt als Lyrikerin und Übersetzerin - sie hat intensiv neue chinesische Lyrik in Deutschland vorgestellt -, berichtet davon in einem kleinen Band über die Scham, erschienen in der Edition Poeticon im Verlagshaus Berlin. Sie listet eine Menge gutgemeinter Ratschläge auf, die sie erhielt, um dieser Tage schreibend Erfolg zu haben, einen Kanon der Konformität - auch die Postmoderne kann, konträr zu dem, wofür sie eigentlich angetreten ist, in ihrer Coolness erstarren, das macht am Ende ihre Misere aus: "Schreib nicht von dir. Sei ironisch. Sei distanziert. Spiele so lange mit der Sprache, bis sie keinen Inhalt mehr hat; keinen Inhalt, auf den man dich festlegen, der dich verraten, der dir peinlich sein könnte. Spiele so lange, bis du nur noch Sprache hast."

Ein permanentes Spielen, das in Sprache pur ausläuft, in ein Stahlbad der Ironie. Lea Schreiber führt vor, wie man sich freimacht von diesem Panzer, die Regeln ignorierend, Schritt für Schritt, unverschämt. Eine Eloge der Scham, ein Schreiben, das dem fleckenlosen, unantastbaren Diskurs der Männer entgegengesetzt ist und die Verletzlichkeit produktiv macht, die Abhängigkeit von anderen, die Unausweichlichkeit des Schamgefühls.

"Scham, ist sie einmal da, breitet sich aus. Macht Flecken. Blut, Rotz, Schleim, Sperma, Speichel."

"Scham ist ansteckend. Scham klebt an Dingen und Menschen. Scham läuft über: über den Rand des Körpers, der Sätze. Scham trieft in andere Sätze, in andere Bereiche hinein. Scham, ist sie einmal da, breitet sich aus. Macht Flecken. Blut, Rotz, Schleim, Sperma, Speichel: Scham hängt an Körperflüssigkeiten. Und wie diese verhält sie sich auch." Produktiv gemacht ist die Scham, die weibliche zumal, im Werk der britischen Künstlerin Tracey Emin. "Sie versenkt sich in jene spezifisch weibliche Scham, bedürftig zu wirken, zu nerven, zu viel Aufmerksamkeit zu fordern, zu anhänglich zu sein, sich zu schnell zu verlieben, zu viel zu zeigen, zu emotional zu sein."

Neue Essays über Lust und Scham: Odile Kennel: Lust. Edition Poeticon Nr. 16. Verlagshaus Berlin 2021. 47 Seiten, 7 Euro.

Odile Kennel: Lust. Edition Poeticon Nr. 16. Verlagshaus Berlin 2021. 47 Seiten, 7 Euro.

"Poetisiert euch" ist die Devise der Edition, in der in einem weiteren Band soeben auch die Reflexionen von Odile Kennel zur Lust erschienen sind - zwei Frauen, die Lyrik schreiben, in verschiedenen Sprachen arbeiten, und doch ganz selbstverständlich die Grenzen zwischen ihnen überschreiten. Sie widmen sich in diesen Essays durchaus der Reflexion der beiden Begriffe - aber Ausgangspunkt sind immer die Emotionen und die Körper, ihre Sprache und ihre Arbeit.

Die Wissenschaft und die Poesie in einen natürlichen Zusammenhang gebracht, das ist die Aufgabe, die diese Reihe sich stellt - Poesie ist Wissenschaft, man kennt das aus der deutschen Romantik (und auch die abgeklärte, ziselierte Form, in der das denken bei Adorno und Benjamin betrieben wird, hatte immer etwas Lyrisches). Eine Wissenschaft in offener und wendiger, in unbekümmerter, manchmal possenhafter Form, stream of consciousness, spekulativ und manchmal schlüpfrig. Eine neue Lust am Text, ohne Intervention eines Über-Ichs. Unerschrocken gegenüber den Gefahren des Kalauers. Plötzlich schaltet sich in den Diskurs bei Odile Kennel die Unlust selbst ein, "mault: Du kriegst die Lust nicht ohne mich. liegt im Weg, ah und oha, da liegen auch Freud und Lacan, le désir est la passion du signifiant, und schon vergnügen sie sich zu dritt auf dem Papier. Geht doch!, Unlust, sage ich, ça roule, ça roucoule, und schon rollen sie über den Boden, rollen aus dem Text."

"Baubo schickt Klitpics. / und gleich zeigt man auf sie, macht sie zügig mundtot"

Schneider und Kennel zerlegen alles, was der Philosophie seit der Aufklärung heilig war und ist, feste Begriffe wie Subjekt und Individuum und Unabhängigkeit, oder das Verlangen, souverän, autonom, rational zu sein. Der bewährten Rationalität ist immer ein Gerüst von Macht und Herrschaft eingezogen, die Kreativität der Scham dagegen geht aus von Verletzlichkeit, kalkuliert das Risiko ein zu leiden oder auch der Gewalt zum Opfer zu fallen. Ein Mechanismus des Masochismus, aber auch die Öffnung auf die Liebe hin. "Wir können unsere Scham nicht loswerden, ohne dabei auch unsere Menschlichkeit zu verlieren." Scham als Geschenk, das bedeutet Öffnung. Eine politische Aktivität: "Scham signalisiert, wo Gefährdung beginnt, wo sich Ausschlüsse ereignen, wo die Grenzen unseres Mitgefühls und unserer Vorstellungskraft verlaufen - wo also zu ändern, neu zu denken, umzuverteilen ist."

Neue Essays über Lust und Scham: Lea Schneider: Scham. Edition Poeticon Nr. 15. Verlagshaus Berlin 2021. 47 Seiten, 7 Euro.

Lea Schneider: Scham. Edition Poeticon Nr. 15. Verlagshaus Berlin 2021. 47 Seiten, 7 Euro.

Etwa zur Hälfte von Odile Kennels Buch zur Lust wird das Gespinst der Reflexionen, das Gewoge von Rede und Widerrede zerfetzt. Plötzlich ist Baubo da, und mit ihr kommt die Hoffnung auf Befreiung, auf den Riss, die entscheidende Geste. Baubo, die in der griechischen Mythologie Demeter begleitet auf deren verzweifelter Suche nach ihrer Tochter Persephone, sieht nur ein Mittel, um diese Verzweiflung zu beenden. Sie wirft ihr Kleid hoch und zeigt ihre Klitoris, ihre Scham, "zeigt ihre ungezügelte, umzüngelte, züngelnde Lust, Baubo schickt Klitpics. / und gleich zeigt man auf sie, macht sie zügig mundtot, schneidet ihr die Lippen ab, die Zunge, den Zorn, die Klitoris / interdite devant tant d'interdit / sprachlos vor soviel Gewalt / dire l'inter-dit, ich schnapp mir die Sprache, spreche aus, was sprechend unterbricht, sich mein Zeigen verbittet / mir mein Zeigen verbietet / auftritt die Scham".

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