Wer ist die Frau?

Marie NDiaye seziert in ihrem Roman „Die Rache ist mein“ das Innenleben der französischen Gesellschaft

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist er es wirklich?, geht es Maître Susane spontan durch den Kopf, als ein Mann unangemeldet ihr Anwaltsbüro in Bordeaux betritt. 230 Romanseiten später fragt sie nochmals: „Wer ist er denn?“, um anzufügen: „Wir glauben es nun zu wissen, gleichwohl sagen wir uns: Und wenn ich mich täuschte?“ Zwischen diesen beiden Fragen schickt die französische Autorin Marie NDiaye ihre Protagonistin in ein Wechselbad der Gefühle. Es sind mitunter kleine Verschiebungen, wie der Übergang vom Indikativ zum Konjunktiv oder vom Wir zum Ich, die eine tiefe Verstörung freilegen.

Der Mann, der die Anwaltskanzlei betritt, stellt sich als Gilles Principaux vor. Er möchte, dass Maître, oder kurz Me, Susane, seine Frau Marlyne verteidigt. Diese hat ihre drei Kinder kaltblütig in der Badewanne ertränkt und danach auf ihrem Bett schön hergerichtet. Me Susane kennt die grausliche Tat aus der Zeitung. Was sie indes stärker frappiert, ist der Besucher selbst. Sie glaubt in ihm einen Jungen zu erkennen, der sie vor mehr als dreißig Jahren – sie war damals zehn – mit in sein Zimmer nahm, als ihre Mutter bei den wohlhabenden Leuten die Hausarbeit verrichtete. Erkennt auch er sie wieder, und ist er deswegen zu ihr gekommen?

Me Susane glaubt sich an einen beglückenden Nachmittag zu erinnern – aber kann sie ihrer Erinnerung trauen? Vater hegte schon damals die wüstesten Vermutungen und Mutter erschrickt noch immer, als Me Susane sie darauf anspricht und fragt, ob die Familie damals wirklich Principaux geheißen habe. Die Erinnerung bleibt unscharf. Me Susane hat all die Jahre nie daran gedacht. Sie hat studiert und nach ersten Lehrjahren eine eigene Kanzlei eröffnet. Eine erste Beziehung scheiterte, doch sie ist mit ihrem Ex Rudy und mit Lila, seiner Tochter aus zweiter Ehe, freundschaftlich verbunden geblieben. Ja, sie bilden so etwas wie eine kleine Familie, zu der auch Me Susanes Eltern zählen sowie Sharon, die Haushalthilfe aus Mauritius. Aber natürlich trügt dieser Eindruck. Die Einhelligkeit zerbricht, als Sharon auf Lila acht gibt und sie zu ihrer Arbeit im Haushalt einer älteren Dame namens Principaux mitnimmt, trotz Me Susanes dringlicher Bitten und Bedenken, weil sie glaubt, dass die Dame etwas mit Gilles Principaux zu tun habe. An diesem Punkt überlagern sich auf einmal die vermeintlich glückliche Erinnerung und lauernde Angst. Auch wenn völlig ungewiss bleibt, ob die Namensähnlichkeit irgendeine Bedeutung hat und Gilles wirklich der Junge von damals ist, glaubt Me Susane obsessiv daran.

Marie NDiaye erzählt ihre Geschichte mit jener „trockenen Unbestechlichkeit“, wie sie Me Susane an der spröden Schwägerin von Sharon bewundert, als sie wegen Sharon mit ihr Kontakt aufnimmt. Es ist gerade diese Nüchternheit, die dem Roman seine Spannung verleiht und obendrein eine unterschwellige Komik, was das verzwickte Verhältnis von Me Susane zu Sharon betrifft. Während sich Me Susane große Mühe gibt, ihre Haushaltshilfe zuvorkommend zu behandeln und sie generös entlöhnt, umsorgt Sharon ihre Dienstherrin beflissen und nutzt sie zugleich frech aus. Me Susane ist darob bekümmert, weil sie, die kinderlos geblieben ist, zu spüren glaubt, dass die vitale Immigrantin aus der ehemaligen Kolonie sie auch ein wenig verachtet. Diese turbulente Gefühlswelt wird von NDiaye kühl ausgeleuchtet. Die psychische Fragilität ihrer Protagonistin findet Ausdruck in einem verwirrenden Geflecht von Verdacht, Mutmaßung, Missverständnis und ihren äußerlichen Signalen.

Der dreifache Kindermord gerät darob in den Hintergrund, das Unbehagen konzentriert sich ganz auf Gilles Principaux. Er beherrscht Me Susane allein schon durch seinen gebieterischen Namen, selbst wenn er zurückhaltend auftritt. Ihr eigener Name dagegen bleibt ein hilfloser Stummel mit seiner vorangestellten förmlichen Anrede Me (für Maître). Zwar bittet sie Sharon eindringlich, sie vertraulich mit dem Vornamen anzusprechen. Vergebens. Wir erfahren nichts weiter als dessen ersten Buchstaben „H“. Namen begleiten Me Susane auch in der Kanzlei. Eine ihrer raren Fälle betrifft einen Weinbauern, der seinen „Namen der Schande“ ändern will, weil er überzeugt ist, Nachfahre einer Familie zu sein, die in die Sklaverei verstrickt war. Die koloniale Vergangenheit schlägt zurück.

Immer wieder heißt es von Me Susane, dass sie dies denken und jenes nicht sagen würde, womit die Erzählerin die Konjunktive förmlich vor ihr auftürmt. Es überrascht daher nicht, dass sich Me Susane auch körperlich unbehaglich fühlt. Ihr Äußeres strahlt eine ruhige, „schwerfällige Robustheit“ aus, die Me Susane Sharon zu verdanken hat, welche sie mit ihrer opulenten Küche tüchtig mästet. Als sie aber endlich einmal mit ihren Eltern über das damalige Geschehen spricht, brechen die seelischen Turbulenzen förmlich aus ihr heraus. Sie sucht, „atemlos wie eine in die Enge getriebene Hirschkuh“ eine Rechtfertigung für ihre heile Erinnerung und fühlt sich „zugleich erhitzt und fröstelnd, als wäre irgendetwas schwierig daran, vom glücklichsten Moment ihres Lebens zu erzählen“. Ihre vagen Erinnerungen heften sich an einen Jungen, der vielleicht Principaux hieß und „der sich für immer in ihrer Seele eingenistet hatte – ein abgekapselter Tumor?

Derart aufgelöst macht sich Me Susane unwillkürlich klein neben den raumgreifenden Gestalten Gilles, Marlyne und Sharon. Rings um sich herum erfährt sie mehr und mehr eine Gefühlskälte, die sich in der Distanziertheit der Eltern manifestiert und in der pathologischen Grausamkeit der drei Kindermorde gipfelt. Getrennt voneinander legen ihr Gilles und Marlyne Principaux in verstörenden, atemlosen Monologen die näheren Umstände der unerklärbaren Tat dar. Während die Täterin ihre Rede permanent mit entschuldigenden „aber“ akzentuiert, sucht ihr Mann Rechtfertigung in gehäuften „denn“-Konjunktionen. Daraus resultiert eine emotionale Katastrophe. Während er sie retten will, verachtet sie ihn dafür und will sich sogar scheiden lassen. Die drei toten Kinder spielen in dem verhängnisvollen Paarspiel keine Rolle mehr. Als Einzige scheint die leidenschaftliche, resolute und mitunter auch boshafte Sharon mit sich im Reinen, auch ohne legalen Aufenthaltsstatus, den zu regeln Me Susane nicht gelingen will.

Auf ebenso elegante wie schneidende Weise seziert Die Rache ist mein die französische Gesellschaft zwischen bürgerlicher Gefühlskälte, der Scham der kleinen Leute und, am Rande aufblitzend, den Verwerfungen der kolonialen Geschichte. Me Susane beschäftigt sich zum einen mit dem grauenhaften Kindermord, zum anderen versucht sie obsessiv den Schleier des Verdrängens über ihrer eigenen Erinnerung zu heben. Ihrer inneren Verwirrung antwortet Sharon mit einer temperamentvollen, doch auch ambivalenten Fürsorglichkeit für Me Susane, in der sich Dienstfertigkeit und Hochmut miteinander mischen – ja vielleicht sogar Verachtung, wie Me Susane zu spüren glaubt.

Marie NDiayes brillantes Gesellschaftsporträt, das Claudia Kalscheuer vortrefflich ins Deutsche übertragen hat, überzeugt auch dadurch, dass es die Spannung bis zum Schluss hoch hält. Was geschah damals wirklich? Der Roman dröselt den Knoten nicht auf, das Rätsel bleibt ungelöst und Maître Susane unerlöst. Am Ende des Buches, in ihrem Plädoyer vor Gericht, hat sie dem nichts Weiteres beizufügen als den grundlegenden Zweifel an allem, was wir über Gilles Principaux erfahren haben. An wem aber nimmt sie eigentlich Rache? Marie Ndiaye beweist hier einmal mehr ihr feines Gespür für Suspense, ihr Roman liest sich wie ein Psychothriller aus der Mitte der Gesellschaft.

Titelbild

Marie NDiaye: Die Rache ist mein.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
240 Seiten ,
ISBN-13: 9783518430316

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