Eines der großen Anliegen der modernen Literatur bestand immer darin, echte Charaktere zu erschaffen, mit einem komplexen Innenleben und psychologischer Tiefe. Es gibt eine Strategie, um diese Tiefe zu erzeugen, die vor allem in unserer Gegenwart beliebt ist: Man stattet die Figur mit einer prägenden Leiderfahrung aus, einem Trauma, das im Verlauf der Handlung enthüllt wird. 

Gegen diese Art von "Trauma-Plot" hat die Autorin Parul Sehgal gerade im New Yorker einen viel beachteten Essay geschrieben. Darin kritisiert sie, die repräsentative literarische Figur der Gegenwart definiere sich vor allem über ihre traumatischen Erfahrungen. Diese wirke zunächst undurchschaubar, sei umgeben von einer vagen Aura des Beschädigtseins – bis dann in plötzlichen Rückblenden oder dramatischen Geständnissen die Leidensgeschichte Stück für Stück ans Licht kommt.

Der Essay ist Ausdruck eines Überdrusses an der Allgegenwart des Trauma-Plots und damit Teil einer Debatte über die angemessene Darstellung von Leidenserfahrungen in der Gegenwartsliteratur. Als Inkarnation des Trauma-Plots wird Hanya Yanagiharas 2015 erschienener Roman Ein wenig Leben genannt – ein internationaler Bestseller, der mit Preisen ausgezeichnet und teilweise hymnisch besprochen wurde. Für Sehgal ist der Protagonist Jude, der eine endlose Reihe von Demütigungen und Gewalttaten ertragen muss, einer der am meisten verfluchten Charaktere der Literaturgeschichte, ein Beispiel für den zeitgenössischen Exzess des Trauma-Plots.

Tatsächlich lässt sich an dieser Debatte, die anlässlich der aktuellen Publikation von Yanagiharas neuem Buch Zum Paradies wieder aufgeflammt ist, das Konfliktpotenzial dieses Handlungsmodells gut ablesen. Einer der wenigen Kritiker, der sich beim Erscheinen von Ein wenig Leben alles andere als begeistert zeigte, war der Autor Daniel Mendelsohn, der in einer Rezension in der New York Review of Books kritisierte, der Roman sei schlecht geschrieben und habe die narrative Struktur eines "Striptease". Der Erfolg des Romans ließe sich möglicherweise dadurch erklären, dass ein auf Viktimisierung ausgerichteter Zeitgeist von Yanagiharas melodramatischer Opfernarration manipuliert ("duped") worden sei.

Gegen diese Kritik richtete sich ein Leserbrief des Verlegers von Ein wenig Leben, der empört darauf hinwies, dass emotionale Manipulation doch eines der Hauptgeschäfte von Literatur sein müsse. Habe nicht schon Vladimir Nabokov immer wieder angedeutet, Kunst sei eine elaborierte Form emotionalen Trickbetrugs? Mendelsohn antwortete darauf, mit dem Wort "duped" sei gemeint, dass Yanagiharas Anhäufung von Traumata letztlich eine plumpe und unkünstlerische Art darstelle, dem Leser Gefühle abzuringen. Die Effekte, die das Buch erzielt – die Tränen, die der Verleger als Zeichen der Wirksamkeit vorschieben würde – habe die Autorin auf eine "unehrliche" Art erreicht.

Der Streit um Ein wenig Leben verweist auf zentrale ethische und ästhetische Fragen, die in der Debatte um den Trauma-Plot aufgeworfen werden: Welche Funktion hat die Darstellung menschlichen Leids in der Literatur? Wann ist sie angemessen, wann manipulativ? In einem Essay über den neuen Roman Zum Paradies findet Andrea Long Chu ein ziemlich dunkles Bild für Yanagiharas Faszination mit Leidensgeschichten. Der Autorin gehe es vor allem darum, sich selbst als eine sinistre Pflegerin in ihre Geschichten einzuschreiben, die ihre Figuren vergiftet, um sie dann im Vorgang des Erzählens liebevoll wieder gesund zu päppeln. Damit ist ein grundsätzliches Problem im Verhältnis einer Autorin und ihrer Figuren angesprochen, nämlich, dass die Art, wie die Schöpferin ihre Geschöpfe behandelt, den ästhetischen Genuss an der Erzählung beeinflusst.

Was den bereits erwähnten Nabokov trotz aller ästhetischer Brillanz bisweilen unerträglich zu lesen macht, ist der Eindruck, dass er seine Figuren auslacht, verachtet, regelrecht mobbt. In seinem Roman Pnin wird diese Tendenz sogar zum Teil der Handlung, wenn die geschundene Figur dem feindseligen Erzähler am Ende abhandenkommt. Bei Yanagihara – so zumindest die Unterstellung der Kritik – verhält es sich umgekehrt: Die Figuren werden in den sentimentalen Folterkeller einer übergriffigen Sympathie gesperrt. Das sei kein Sadismus, sondern Stellvertreter-Münchhausen-Syndrom. Ähnlich wie Daniel Mendelsohn wird auch hier die erzählerische Konzentration auf schwule Männer bei Yanagihara kritisiert, die vor allem eine "touristische" Form der Zuneigung zum Ausdruck bringe. Indem sie deren Verletzlichkeit übertreibe, könne sie die mütterliche Pose eines exzessiven Beschützerinstinkts legitimieren.