Genau genommen besteht der größte Teil der Weltliteratur aus Familienromanen, von der Orestie bis zum Nibelungenlied, von Anna Karenina bis zu Crossroads von Jonathan Franzen. Die Frage jedoch, warum Schriftsteller so gerne Familienromane schreiben, ist damit nicht beantwortet. In Constanze Neumanns Roman Wellenflug beugt sich die Autorin über ihre Familiengeschichte und gesteht: "Die Zahlen sprachen nicht zu mir, ich brauchte Geschichten, auch dort, wo es keine gab." Und in Jo Lendles Roman Eine Art Familie heißt es: "Ist es nicht so: Wenn wir nur recht tüchtig an die Vergangenheit denken, geht sie uns nicht ganz verloren?"

Das Seltsame an diesen Romanen ist erstens, dass ihre Autoren etwa gleich alt sind – so um die fünfzig, also Vertreter der Enkelgeneration – und dass beide einen Verlag leiten, Neumann den Aufbau Verlag, Lendle den Hanser Verlag. Das Seltsame besteht zweitens darin, dass ihre Bücher so sehr von der Familiengeschichte bestimmt sind, dass sie dokumentarischen Charakter haben. Die Autoren sind folglich nicht frei darin, ihr Material einer Dramaturgie zu unterwerfen. Das ist im einen Fall ein kleineres, im anderen ein größeres Problem.

Constanze Neumann beschränkt sich hauptsächlich auf die Chronik der jüdischen Vorfahren, ihrer Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen und ihres unbedingten Aufstiegswillens. Der Urgroßonkel entwickelt seinen Tuchhandel zu einem florierenden Unternehmen, zieht nach Berlin und gehört bald zu den angesehenen, reichen Familien. Seinen ostjüdischen Hintergrund streift er ab, konvertiert zum Protestantismus und verbietet den Seinen, Jiddisch zu sprechen. Die schönen Töchter sind sein ganzer Stolz, und zu Anna, der ältesten, sagt er einmal: "Dein Mann, dein Schwiegervater, deine Schwäger, später deine Söhne und Enkel werden die Geschicke dieser Stadt bestimmen – in der Wirtschaft, in der Politik, in der Wissenschaft und in der Kunst. Die Zukunft gehört dir. Vergiss das nie!"

Anna vergisst es nicht. Ihr Standesbewusstsein wird im zweiten Teil des Buchs eine ungute Rolle spielen. Dort geht es um einen missratenen Zweig der Großfamilie, um einen Sohn, der unter Spielsucht leidet, und einen gleichfalls untüchtigen Enkel, der sich in ein Arbeitermädchen namens Marie verliebt, sie gegen die Standesregel ehelicht und von der Familie ausgeschlossen wird. Er versucht in den USA sein Glück. Anna setzt alles daran, diesem Bruder Leichtfuß eine honorige Heimkehr in den Schoß der Familie zu verwehren. Marie jedoch, früh an Entbehrung gewöhnt, hält ihrem Heinrich die Treue und nimmt dessen illegitimes Kind als eigenes an. Es kommen die Jahre der Vertreibung und Vernichtung, der viele aus der Verwandtschaft zum Opfer fallen. Schließlich nähert sich die Geschichte der Nachkriegszeit, berichtet von den Repressalien in der DDR und endet mit der "Republikflucht", die die Erzählerin als Kind selber erlebt hat.

Was macht Jo Lendle? Die Familie, von der er erzählt, ist tatsächlich nur "eine Art Familie". Das Waisenkind Alma wächst im Haushalt ihrer beiden Vettern auf. Der früh verstorbene Onkel hat die Patenschaft seinem Sohn Ludwig vererbt, sodass Pate und Patenkind etwa gleich alt sind. Die beiden sind einander sehr zugeneigt. Ludwig allerdings ist ein Eigenbrötler besonderer Art. Körperliche Kontakte zu Frauen sind seine Sache nicht, sodass Alma ihren erotischen Hunger mit einer erklecklichen Anzahl mehr oder weniger fremder Männer stillt.

Ludwig Lendle nun (Großonkel des Autors) macht sich einen Namen als Pharmakologe und habilitiert sich auf dem Gebiet der Narkose. Im Gegensatz zu seinem Bruder Wilhelm will er sich den Nazis nicht anschließen, sodass er nach dem Ende der tausend Jahre in der jungen DDR willkommen ist. Doch die abermalige Ideologisierung stößt ihn ab, er nimmt eine Professur im Westen an und stirbt kurz nach der Geburt seines Großneffen Jo, der später seine Tagebücher findet und sich davon zu seinem Buch inspirieren lässt. Zu dessen Stärken zählt, dass es die Lücken nicht krampfhaft füllt. Das Hauptinteresse gilt Alma und Ludwig. Doch auch sie sind nicht völlig klar umrissen und bleiben auf anziehende Weise rätselhaft.

Alma interessiert sich sehr für Ludwigs Forschungen und Gedanken. Sie kreisen um die Thematik von Schlaf und Tod. Einmal fragt sie ihn danach, und er antwortet: "Ich stelle mir vor, dass es den Tod nicht gibt. Es gibt den Tod der anderen, aber nicht den eigenen." – "Weil man dann nicht mehr ist?" – "Das wäre zu leicht. Eher: weil wir kein gutes Zeitgefühl haben. Wir treiben ja im Fluss der Zeit. Wenn sie uns mitreißt, leben wir schnell. Steht sie still, stehen wir mit ihr. Alles, was wir wissen, deutet darauf hin, dass die letzten Sekunden des Lebens so gewaltig sind, so monumental und barock, dass ihre Wahrnehmung sich ins Unendliche dehnt. Ins Unaufhörliche." Es gibt bei Lendle einige solcher beiläufigen, zum Nachdenken reizenden Passagen.

Constanze Neumann hingegen ist derart um historische Treue bemüht, dass sie die Personen und ihre Umstände mit allem ausstaffiert, was eine Recherche hergibt. Das Mobiliar und die Garderobe, die Villen und die Kutschen. Der historische Bogen ist so groß, dass Neumann dazu neigt, die Zwischenräume mit Floskeln zu überspannen: "Die letzte Woche vor der Messe war wie im Flug vergangen", heißt es, und eine Seite später: "Wie immer waren die letzten Tage schnell vergangen", und wieder eine Seite danach: "Die Zeit verging wie im Flug." Nach längerer Pause liest man irritiert, dass die Tage "wie im Traum" vergehen, und ist beruhigt, dass sie bald wieder "wie im Flug" vergehen. Da ist Lendle einfallsreicher, wenn er schreibt: "Längst kam der Morgen nicht mehr wie eine frische Flasche Milch an die Tür. Die Molkerei hatte die Lieferung eingestellt. Der Morgen kam trotzdem." Über beiden Büchern steht das heimliche Motto: Kinder, wie die Zeit vergeht!

Der wirkliche Romancier ist Herr seines Materials. Hier ist das Material Herr der Autoren. Ihre Bücher haben keine Pointe. Es ist leider wahr: Das Leben hat oftmals auch keine. Deshalb liest man ja Romane.

Jo Lendle: Eine Art Familie. Roman; Penguin, München 2021; 368 S., 22,– €, als E-Book 18,99 €

Constanze Neumann: Wellenflug. Roman; Ullstein, Berlin 2021; 336 S., 22,– €, als E-Book 17,99 €