Was will der Bürgermeister mit der jungen Frau auf dem Sofa?

Der französische Schriftsteller Tanguy Viel hat einen subtilen #MeToo-Roman geschrieben, der auch die Politiker in Paris aufs Korn nimmt.

Paul Jandl
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Der französische Schriftsteller Tanguy Viel ist ein Meister der Aussparungen.

Der französische Schriftsteller Tanguy Viel ist ein Meister der Aussparungen.

Nadine Michau

Wäre Dürrenmatt Bretone gewesen, hätte er vielleicht so einen Kriminalroman geschrieben. Der Roman ist von Tanguy Viel und heisst «Das Mädchen, das man ruft». Eine kleine Stadt am Meer. Die Rollen sind verteilt, aber welche Rolle die Moral spielt, stellt sich erst allmählich heraus. Eine junge Frau in körpernahem Kleid. Nicht gerade ein Sozialfall, aber immerhin. Ein Bürgermeister, der verspricht, sich bei der Wohnungssuche ihrer anzunehmen, und dabei die Grenzen des Angenehmen zügig überschreitet.

Man landet gemeinsam in einer Absteige, und von da an geht, was gefühlt und gedacht wird, ziemlich weit auseinander. So weit, dass zwei Polizisten, die eine Anzeige der jungen Frau aufnehmen müssen, nur noch hilflos dreinschauen. Die Welt der Polizei ist alles, was ein Fall ist, aber was ist hier der Fall?

Der Bretone Tanguy Viel ist ein grosser Techniker der Aussparungen. Das nicht Gesagte ist bei ihm Psychologie. Noch spannender wird es, wenn nicht einmal die vom Autor beschriebenen Menschen wissen, was sie gerade nicht sagen. Dabei ist die Sache im Grunde einfach. «Das Mädchen, das man ruft» ist eine Art #MeToo-Roman. Im Provinzstädtchen am Meer kennt man sich. Man hilft sich. Der Ex-Boxer Max, der gerade vor einem Comeback steht und Fahrer des Bürgermeisters ist, bittet seinen Chef, etwas für seine Tochter Laura zu tun.

Sexuelle Übergriffe mit Folgen

In der ersten Begegnung der beiden schrumpft das Riesenbüro des Bürgermeisters schnell zu ein paar Zentimetern Abstand auf dem Besuchersofa. Für Laura ungewollt. Es kommt zu weiteren Treffen im Bett der Kleinstwohnung, die der mafiöse Freund und Ex-Boxmanager Franck Laura zur Verfügung gestellt hat. Sind die routinierten Handgriffe Folgen eines Übergriffs?

Es sind keine Vergewaltigungen, aber psychische Gewalt ist mit im Spiel. Abhängigkeitsverhältnisse. Eine Schieflage zwischen zwei Ungleichen. Die Affäre weitet sich zum Skandal, als der Kleinstadtbürgermeister französischer Minister für maritime Angelegenheiten wird. Es gibt ein letztes Treffen in einem Zwei-Sterne-Hotel in der Pariser Banlieue. Die Schicklichkeitszonen der französischen Politik sollen unberührt bleiben, aber seit #MeToo weiss man, dass das nicht mehr so einfach ist. Laura geht zur Polizei.

Schon der Titel von Tanguy Viels Roman bewegt sich zwischen einer Atmosphäre der Unschuld und ihrem professionellen Gegenteil. Das «Callgirl» steckt in «Das Mädchen, das man ruft» auch drinnen. Mit sechzehn war Laura Unterwäschemodel. Dass der Ex-Boxmanager Franck in seiner Schreibtischlade unter der Pistole ein Magazin mit Aufnahmen ganz ohne Unterwäsche hat, ist in der Kleinstadt Beweis genug für moralische Sachlagen.

Nicht allerdings für Tanguy Viel, der aus dem Krimi, der eigentlich keiner ist, einen macht. In «Das Mädchen, das man ruft» wird das Thema der sexuellen Gewalt in all seiner Ambivalenz ausbuchstabiert. Wie sehr die Beweisführung auch einer psychologischen Spurensicherung bedarf, macht Tanguy Viel klar, indem er genau diese vorführt. Indem er erzählt. Indem er andeutet. Für diese Form hat der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel auch im Deutschen den exakten Ton getroffen.

Grosser Showdown im Hafen

Subtil ist der Roman des französischen Schriftstellers nicht in seinem Plot, sondern in seiner Methode. Das Personal ist plastisch bis zum Klischee und geradezu filmisch gedacht. Der Boxer und Vater von Laura hat ein Gesicht, das im Ring und vom Leben zermahlen wurde. Der mafiöse Manager und Kasinobesitzer trägt einen weissen Anzug. Der karrieristische Bürgermeister die Insignien der Macht. Mit seiner Idee, sich alles erlauben zu können, ist er ein klassisches Auslaufmodell. So hofft man zumindest. In der französischen Politik hat es Fälle gegeben, die vielleicht weniger holzschnittartig abgelaufen sind, aber durchaus ähnlich.

Tanguy Viels Buch ist auch ein Boxer-Roman. Daran wird man erinnert, wenn es am Ende des Buches zum grossen Showdown kommt. Vor der grossartigen Kulisse eines bretonischen Hafenstädtchens. Auf dem Weg zur Rückgewinnung der Würde werden die Fäuste geballt. Und die Polizei, Hüter von Recht und Ordnung, weiss wieder nicht, was los ist.

Tanguy Viel: Das Mädchen, das man ruft. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022. 160 S., Fr. 30.90.

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