Küstenort Ostende:Herrlich hässlich

Küstenort Ostende: Die belgische Küste, insbesondere Ostende, übte einst auf die mondäne Welt Europas eine ungemeine Attraktion aus.

Die belgische Küste, insbesondere Ostende, übte einst auf die mondäne Welt Europas eine ungemeine Attraktion aus.

(Foto: Arthur C. Michael/National Railway Museum/SSPL/SZ Photo)

Einst war es die Perle der Seebäder, nach der Zerstörung des Weltkrieges schlugen die Bagger zu. Trotzdem lieben die Belgier - und auch deutsche Literaten- ihr Ostende. Aus ganz eigenen Gründen.

Von Josef Kelnberger

Ja, klar, man kann baden in Ostende. Der ausgedehnte Sandstrand ist ein Traum, das Wasser herrlich erfrischend. Aber man kann es angesichts der Temperaturen auch mit Schriftsteller Joseph Roth halten, der in Ostende sagte: Ins Meer gehe er keinesfalls, schließlich würden die Fische auch nicht ins Caféhaus gehen.

Die belgische Sommerbeschäftigung funktioniert auch in Ostende häufig. Unter einer Markise, bestrahlt von einer Wärmelampe, in eine Daunenjacke gehüllt isst man Pommes, trinkt Bier und schaut mit wachsender Begeisterung zu, wie der Wind sein irres Spiel mit den Regentropfen treibt. Doch es gibt noch tausend andere Arten, sich die Zeit zu vertreiben.

Die Stadt an der Nordsee, bis zum Zweiten Weltkrieg gerühmt als Schönheitskönigin unter Europas Seebädern, wegen des grauen Elends seiner Apartmenthäuser mittlerweile als Königin der massentouristischen Hässlichkeit verschrien, eignet sich bestens, um Betrachtungen anzustellen über die Ästhetik der Demokratie, über heimatlose deutsche Kunst, über Krieg und Frieden - und nicht zuletzt über den kinderleichten Zugang zu schweren Waffen, die neuerdings wieder so gefragt sind in Europa. Ein heißer Tipp für eine Kulturreise im Sommer 2022.

Der erste Weg muss vom Bahnhof zur Strandpromenade führen

Vom Brüsseler Südbahnhof führt die Reise an einem Samstagmorgen im völlig überfüllten Zug hinaus Richtung Meer. Die meisten Passagiere steigen eine Station vor Ostende aus, um sich Schulter an Schulter durch die mittelalterliche Pracht von Brügge zu schieben. Es gibt aber genügend Menschen, die die viertelstündige Weiterfahrt wagen. Der erste Weg in Ostende muss vom Bahnhof unbedingt zur Strandpromenade führen, wo Kulturen aus allen Winkeln der Welt aufeinandertreffen. "Diese Araber", brüllt ein deutscher Kampfrentner, während er mit seinem E-Bike durch eine flanierende muslimische Großfamilie hindurchfräst, "diese Araber stehen schon wieder im Weg rum!"

Im Weg herum liegen auf der Promenade ein halbes Dutzend zerbeulter, in Fetzen gerissener Dosen. Vor fast zehn Jahren wurden sie angespült, und niemand räumt sie weg. Knallig orange, riesig groß - eine Skulptureninstallation des belgischen Künstlers Arne Quinze. Die Installation, genannt "Rock Strangers", soll die Reihe der Apartmenthäuser kontrastieren, die sich bis zum Horizont erstrecken. Aber leider, das Werk und die Umgebung ergänzen einander.

Küstenort Ostende: Warum liegen die Dosen am Strand rum? Weil die "Rock Strangers" von Arne Quinze so die Hässlichkeit der Hochhäuser kontrastieren.

Warum liegen die Dosen am Strand rum? Weil die "Rock Strangers" von Arne Quinze so die Hässlichkeit der Hochhäuser kontrastieren.

(Foto: imago images/imagebroker)

Als die flämische Zeitung De Standaard ihre Leserschaft aufrief, über die hässlichsten Orte Belgiens abzustimmen, belegte Platz eins die belgische Küste mit Ostende als Aushängeschild. Auf Platz zwei: die Doseninstallation an der Promenade von Ostende. Es war ein knappes Rennen.

Wer schuld ist an dieser Hässlichkeit, darüber lässt sich bei einem Strandspaziergang ausführlich philosophieren. Die Nazis? Die Alliierten? Die belgische Demokratie? Schwierige Frage, während einem der Wind durch Mark und Bein fährt.

Die Pracht der Belle Époque jedenfalls, die sich in den Bauten an der Promenade von Ostende entfaltete, versank in Schutt und Asche, als britische Bomber im Zweiten Weltkrieg die von den Deutschen besetzte Stadt angriffen. Das architektonische Unglück, das beim Wiederaufbau angerichtet wurde, rechtfertigt man in Belgien mit dem Erschließungsdruck: Alle Menschen in Belgien sollen Zugang zum Meer haben. Und offenbar alle zur gleichen Zeit.

Die belgische Bauwirtschaft bemüht sich: überall Kräne

Belgien hat nur 65 Kilometer Küste, aber mehr als elf Millionen Einwohner. Mathematisch betrachtet müsste man also auf jedem Kilometer Strand 170 000 Menschen unterbringen, aber selbst Ostende bietet nur 70 000 Einwohnern Platz. Und es kommen noch jede Menge ausländische Touristen hinzu, zehn Millionen sind es pro Jahr an der belgischen Küste. Deswegen gibt sich die belgische Bauwirtschaft alle Mühe. Davon zeugen überall in Ostende die Baukräne, die weitere Apartmenthäuser und Hotels aufschichten.

Natürlich ist Hässlichkeit kein objektiver Tatbestand, sondern ein Spiegel der jeweiligen Zeit. Das lehrt die Beschäftigung mit dem Maler James Ensor (1860 bis 1949), dem berühmtesten Sohn der Stadt, über Ostende hinaus bekannt als "Maler der Masken". Ensor schimpfte über den architektonischen Zuckerguss, den König Leopold II. über der Stadt ausbreitete, finanziert mit dem Blutgeld aus seiner Privatkolonie Kongo. Der Künstler, zumindest der junge, fühlte sich mehr der einfachen Welt der Fischer verbunden, weniger dem alten Adel und den Nouveaux Riches, die Leopold mit seinen Bauten in die Stadt lockte. In einer Karikatur platzierte Ensor den König auf einem Donnerbalken, und man erkennt im Detail, wie er auf seine Untertanen, man kann es nicht anders sagen: scheißt.

Die Zeichnung ist nun im James-Ensor-Haus zu sehen, das, um einige Ausstellungsräume erweitert, die wunderliche Welt des Künstlers weitgehend im ursprünglichen Zustand zeigt. Im Krimskramsladen, den seine Mutter betrieb, soll sogar der deutsche Kaiser Wilhelm I. eingekauft haben. Oben im blauen Salon, Ensors Wohnraum, steht auf dem Sims ein Totenkopf mit Frauenhut. An der Wand hängt wie zu Ensors Lebzeiten sein Hauptwerk "Der Einzug Christi in Brüssel im Jahr 1889", eine Kopie allerdings, das Original hat das Getty Museum in Los Angeles erworben. Der Künstler als Erlöser, um ihn herum gesichtslose Menschen mit bizarren Masken - so sah er sich selbst, der spätere Baron Ensor, der sich umsorgen ließ von einem Hausdiener namens Gust.

Einen wahren Mummenschanz des Todes veranstaltete James Ensor, ein großer Freund des Karnevals, auf manchen seiner Werke. "Der Tod und die Masken", das schaurigste, wurde nach Deutschland verkauft und dort als "entartete Kunst" aussortiert. An dem Punkt trifft sich Ensors Lebenslinie mit jener Gruppe von Exilanten um die Schriftsteller Stefan Zweig und Joseph Roth, die sich im Sommer 1936 in Ostende zusammenfanden und endlose Debatten führten, wie der Lauf der Welt sich zum Besseren wenden ließe und wo ihr Platz in dieser Welt sein würde.

"Hier an dieser Laterne könnt ihr mich aufhängen, wenn die Deutschen hier in Belgien einmarschieren."

Zweig hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg in Ostende verliebt, diesen vermeintlichen Ort von Frieden, Freiheit und Fortschritt. "Unsinn", sagte Stefan Zweig zu seinen belgischen Freunden noch im Sommer 1914, "hier an dieser Laterne könnt ihr mich aufhängen, wenn die Deutschen in Belgien einmarschieren!" Die Freunde waren gnädig mit Zweig. 1936 wollte Stefan Zweig seinen Freund und Bewunderer Joseph Roth, schwer gezeichnet vom Alkoholismus, in Ostende zum gesunden Leben animieren. Ein hoffnungsloser Fall.

Küstenort Ostende: 1936 wollte Stefan Zweig seinen Freund und Bewunderer Joseph Roth, schwer gezeichnet vom Alkoholismus, in Ostende zum gesunden Leben animieren. Ein hoffnungsloser Fall.

1936 wollte Stefan Zweig seinen Freund und Bewunderer Joseph Roth, schwer gezeichnet vom Alkoholismus, in Ostende zum gesunden Leben animieren. Ein hoffnungsloser Fall.

(Foto: Handout/picture alliance)

"Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft" heißt das fabelhafte Buch von Volker Weidermann, das jene Tage beschreibt. Es gehört wie der Besuch im Haus von James Ensor unbedingt zu einem Besuch Ostendes. Der Sommer der Freundschaft erwies sich letztlich als ein Mummenschanz des Todes. Joseph Roth starb 1939 in Paris, Stefan Zweig nahm sich 1942 in Brasilien das Leben. Verweht, ihre Spuren im Sand von Ostende, ganz im Gegensatz zu den Spuren, die die deutsche Kriegsmaschine hier hinterlassen hat.

Nur ein paar Straßenbahnstationen sind es vom Stadtzentrum nach Raversyde, zum Atlantikwall. An die ausgezeichnet erhaltene Batterie Aachen aus dem Ersten Weltkrieg schließt sich die Batterie Saltzwedel an, errichtet im Zweiten Weltkrieg. 4 cm FLAK 28 Bofors, 2 cm FLAK 38, 2 cm FLAK 28 Oerlikon, PAK 40 Panzerabwehrkanone, 12 cm K 370 (b) Feldkanone. Die schweren Waffen sind noch aufs Meer gerichtet, als stünde der Angriff der Alliierten unmittelbar bevor. Aber ihren Schrecken haben sie verloren.

Küstenort Ostende: Es wurde und wird viel Beton verbaut an der belgischen Küste, die nur 65 Kilometer lang ist, wo aber ganz Belgien ins Meer steigen möchte.

Es wurde und wird viel Beton verbaut an der belgischen Küste, die nur 65 Kilometer lang ist, wo aber ganz Belgien ins Meer steigen möchte.

(Foto: imago stock&people)

Absolut familienfreundlich ist der Krieg hier aufbereitet, als Schnitzeljagd durch Bunker, Tunnel und Geschützanlagen. Nach der Begeisterung von Vätern und Söhnen zu urteilen, hat der Krieg zweifellos Zukunft. "Good work", sagt der amerikanische Dad zu seinem Junior vor der PAK 40. "Et ça fait boum", so erklärt der französische Papa dem Nachwuchs die Funktionsweise der Waffe. Ästhetisches Highlight ist zweifellos ein modernes Video im Comic-Stil, das auf einem Bildschirm in einem Bunker zu sehen ist: So versenkt deutsche Kriegskunst ein britisches Kriegsschiff. Der erste Schuss landet noch im Wasser, der zweite aber voll im Ziel. In einem anderen Bunker ertönt deutsches Liedgut aus dem Lautsprecher: "Leb wohl, mein Schatz, denn wir fahren gegen Engeland."

Nachts bemächtigt sich ein Hauch von Ballermann der Stadt

Von Ressentiments gegenüber Deutschland keine Spur. "Der deutsche Staatschef Adolf Hitler nannte sich den Führer", so steht das auf einer Infotafel für Kinder. "Er hatte große Pläne und wollte auch in anderen Ländern der Führer sein." Ja, liebe Kinder, so war das damals. Schlafet gut, und möge euch der Tod mit seinem Mummenschanz in Euren Träumen verschonen.

"Vous êtes tout seul?", fragt die Kellnerin den Gast, als er am Abend auf der Promenade noch ein Bier bestellt. Ganz allein, das ist nicht vorgesehen in Ostende, wenn die Kleinen im Bett sind und ein Hauch von Ballermann sich der Stadt bemächtigt. Aber es wird auch tout seul ein wunderbarer Abend. Man geht noch hinaus an den Strand, kurz vor elf Uhr im letzten Licht des Tages. Das Meer verteilt Duschen, die Möwen schweben fett im Wind, der Mond schiebt sich über die Apartmenthäuser, die Warnlichter der Baukräne blinken geschäftig in die Nacht hinein, die zerbeulten Dosen leuchten im letzten Abendrot auf wie auf einem Bild von James Ensor, während von weither Partymusik herangeweht wird: "Can you feel it?" Aber natürlich.

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