Mary Ruefle: "Privatbesitz":Wer eine Wahrheit verschläft

Mary Ruefle: "Privatbesitz": "Wie eine Frau, die undepressivste, optimistischste, zuversichtlichste Frau, die ich kenne, eines Morgens aufwachte und geradewegs in die Küche ging und ein Fleischermesser packte (sie ist eine hervorragende Köchin), um es sich ins Herz zu stoßen. Das waren die Wechseljahre." - Mary Ruefle.

"Wie eine Frau, die undepressivste, optimistischste, zuversichtlichste Frau, die ich kenne, eines Morgens aufwachte und geradewegs in die Küche ging und ein Fleischermesser packte (sie ist eine hervorragende Köchin), um es sich ins Herz zu stoßen. Das waren die Wechseljahre." - Mary Ruefle.

(Foto: Matt Valentine/Suhrkamp Verlag)

Sätze, die benennen, was ist. Und zwar so, wie man es noch nicht gelesen hat: Mary Ruefle ist die amerikanische Königin der kurzen und kuriosen Literatur.

Von Insa Wilke

"Es ist doch wirklich traurig, dass heutzutage niemand an der Kunst des Kopfschrumpfens Interesse zeigt", schreibt die amerikanische Dichterin Mary Ruefle, die im April 70 Jahre alt wird. Da muss man sich erst mal kurz reindenken. Das Prosastück, das so bedauernd beginnt, heißt "Mein Privatbesitz". Es handelt von einem Mädchen, das sich in einem Kolonialmuseum in einen Schrumpfkopf verliebt, während es eigentlich in der Schule sein sollte. Es scheint dabei um die grundsätzliche Freiheit und den Trost zu gehen, den zwölf "wie frisch gelegte Eier in einer Schachtel" liegende nach allen Regeln der Kunst geschrumpfte Köpfe vermitteln können.

Eine andere Überlegung von Mary Ruefle, diesmal aus der Prosa-Miniatur "Schnee": "Ich wäre gern im Klassenzimmer - ich bin Lehrerin - würde mein Buch zuklappen, aufstehen, sagen 'Es schneit, ich muss jetzt los, um Sex zu haben, auf Wiedersehen', und aus dem Zimmer gehen." "Schnee" wurde wie der nach dem oben zitierten Text benannte Suhrkamp-Band "Mein Privatbesitz" von Esther Kinsky übersetzt, steht allerdings in Norbert Wehrs Schreibheft.

Die nicht wenigen prominenten Verehrer ihrer Kunst eint etwas, das man vielleicht freudige Ehrfurcht nennen kann

Die Nr. 97 der Essener Literaturzeitschrift widmete Ruefle jüngst einen Schwerpunkt und stellte sie erstmals auf Deutsch vor. Wie üblich für das Schreibheft wird ein kompakter Eindruck durch Gespräche mit der Autorin und eine querschnittartige Auswahl ihres Werkes vermittelt. In Ruefles Fall: Gedichte, Kurzprosa, Ausschnitte ihrer Erasure-Bücher, von denen es 99 an der Zahl geben soll, und ihre sehr kurzen Kurzvorlesungen. Deutende Kommentare von Leuten wie Clemens J. Setz erweitern das Bild.

Der Suhrkamp-Band liefert dagegen keinerlei einordnende Texte mit. Das entspricht Ruefle zwar, wie man aus einem der Schreibheft-Gespräche wissen kann. Da erzählt sie, wie sie vor den Regalen eines Buchladens stand und bemerkte, dass es weit mehr Bücher über Gedichte gab als Gedichtbände. "Ich habe dagestanden und die Regale angestarrt. Sie stellten etwas unter Beweis, das mich bestürzte." Keine Freundin des Paratextes und der Sekundärliteratur also. Auch der "Genre Wars" sei sie müde.

Mary Ruefle: "Privatbesitz": Mary Ruefle: Mein Privatbesitz. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 127 Seiten, 18 Euro.

Mary Ruefle: Mein Privatbesitz. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 127 Seiten, 18 Euro.

Nichtsdestotrotz könnte bei flüchtiger Lektüre von "Mein Privatbesitz" und ohne das Wissen, das einem das Schreibheft durch seine editorische Panorama-Kunst liefert, das Missverständnis entstehen, Ruefle sei einfach nur eine skurrile Person. Eine Dichterin, die im Bundesstaat Vermont eigensinnig in einer Kleinstadt sitze und von hier ihre immer noch mit der Hand geschriebenen kleinen Texte wie Glühwürmchen in die Welt schicke, wo sie aber nicht ankommen, denn Glühwürmchen entwickeln sich langsam und leuchten nur kurz. Schon gar nichts also für lange Strecken über den Atlantik nach Mitteleuropa.

Das Schreibheft revidiert diesen Eindruck durch den Chor der Stimmen, den Norbert Wehr um Ruefles Texte organisiert: Neben Esther Kinsky wird Ruefle hier von anderen Protagonistinnen der hiesigen Lyrikszene übersetzt: Norbert Lange, Anja Utler, Sonja vom Brocke. Allen meint man zwischen den Zeilen ihrer Arbeit eine einverständige Innigkeit anzumerken. Nicht fern von dem innigen Einverständnis, das Mary Ruefle wiederum mit ihren Schrumpfköpfen verbindet.

Sieht man sich im Netz Videos von ihren Auftritten an, fällt auch dort die freudige Ehrfurcht auf, mit der die Dichterin überall in den USA begrüßt wird. Rührt sie daher, dass Ruefle so neugierig darauf ist, "was eine beliebige Oberfläche tief unter sich begraben hält"? Und dass diese Neugier an sich schon so selten ist und noch seltener einen in Wortwahl und in den logischen Strukturen so irritierenden sprachlichen Ausdruck findet? Wird Ruefle bewundert, weil sie sucht, gräbt, plündert und entdeckt, wie es in "Schnee" heißt, dabei ebenso gnadenlos wie unerschrocken vorgehend, völlig unsentimental Wesen und Dingen zugewandt? "Ich hasste Kindsein / Ich hasse Erwachsensein / Und ich liebe Lebendigsein" endet das Gedicht "Herkunft". Sagt das nicht (fast) alles?

Clemens J. Setz bewundert ihr "nie abreißendes Staunen über die Schöpfung"

Clemens J. Setz schreibt: "Was mich in Mary Ruefles Werk so tief berührt, (...) ist ihr von einer Poesie der offensichtlichen Tatsachen durchstrahltes, nie abreißendes Staunen über die Schöpfung." Es lässt sich an der Sprache zeigen, was das meint. Esther Kinsky hat es im Deutschen herausgearbeitet: Da will ein kleiner Baum sein "Sterbchen" machen (als sei das nur ein Bäuerchen), malträtiert vom gefräßigen "Vierbeinerigen" (in dem die "Gier" steckt). "Erdbaumaschinen" und nicht "schweres Gerät" graben den Boden um, in dem Ruefle mit ihrem anthropologischen Interesse beobachtet, wie Tote analog zum Müll behandelt werden, eingepackt in "Begräbniskisten" und nicht in "Särge". Lauter kleine, aber vielsagende Verschiebungen der Wahrnehmung durch sprachliche Abweichungen. Und erst die Partikel, Konjunktionen und Adverben: Wie endgültig ein "und" bei Ruefle in Kinskys Übersetzung klingt, wenn es in dem Prosastück "Glück gehabt" den Reigen der Widerspruchskonjunktion "doch" beendet: "doch das geschah nicht (...) und als ich erwachte, war ich nackt wie ein Baby und allein und hatte Angst."

Das Staunen, das Clemens J. Setz erwähnt, darf man sich aber keineswegs kindlich vorstellen. Es hat andere Facetten. Zum einen ein tiefes Unverständnis den Unempfindlichen gegenüber. Im Gespräch mit Daniel Levin Becker äußert sich Ruefle über die Marketing-Maschen der Kunstindustrie: "Eine Frida-Kahlo-Brieftasche betrachte ich als Hohn. Die Menschen, die Alltagsgegenstände entwerfen - eine Tasse, einen Kissenbezug - und das Gesicht eines Menschen darauf abbilden, der so gelitten hat wie Kahlo: Woran sonst als an Geld können sie denken?"

Zum anderen klingt in vielen Texten die Wut mit, dass "echtem Gefühl" und der wirklichen Wahrheit mit Desinteresse begegnet wird, aus purer Bequemlichkeit. Eine schöne Steigerung in dieser Hinsicht bietet der Essay "Die Pause". Wenn es um die Wechseljahre gehe, wolle sie nicht wie andere von Hitzewallungen reden, schreibt Ruefle: "Wie eine Frau, die undepressivste, optimistischste, zuversichtlichste Frau, die ich kenne, eines Morgens aufwachte und geradewegs in die Küche ging und ein Fleischermesser packte (sie ist eine hervorragende Köchin), um es sich ins Herz zu stoßen. Das waren die Wechseljahre." Als Überlebende dieser Zeit im Leben einer Frau kann Ruefle von dem Geschenk für die Jahre, "die dann noch bleiben", erzählen: dem Geschenk der Unsichtbarkeit, also der Freiheit, man selbst zu sein. Zu den Jüngeren sagt sie: "Du bist nur ein Mädchen, das Leben spielt."

Mary Ruefle neigt zur Definition, formuliert Prinzipien und benennt auch klar, warum: "Wer eine Wahrheit verschläft, wird doch zum bitteren Ende bloß erwachen." Worum es aber eigentlich geht, hat sie damals im Museum von jenem Schrumpfkopf gelernt. Damals wurde ihr klar, was die Schule nicht lehrte, dass nämlich alles in jenem Museum "durch eine so niederträchtige und unsägliche Bosheit erworben war, dass unsere Köpfe es nicht fassen können und kein einziges Wort dafür haben". Endlose "Wortkorridore" müsse man bemühen "auf dieser unserer hoffnungslosen Suche nach einer innersten Kammer des Begreifens, die es nicht gibt". Und so könnte man weiter zitieren, immer begeisterter von diesen erst so unscheinbaren Sätzen, die benennen, was ist. Und zwar so, wie man es noch nicht gelesen hat.

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