Sechster Schritt

 

Dann wachte ich auf. Ich bin wieder zu mir gekommen. Aber was ist mein Ziel? Erst die Theorie entscheidet, was beobachtet werden kann.

Stella fragte mich aus. Sie wollte wissen, warum ich in Paris war. Ich sagte ihr die Wahrheit, ich hatte keine Lust tagsüber in Bonn arbeiten zu gehen, ich wollte Literatur studieren. Ich ging in die Universität und mischte mich unter die Studenten, ich besuchte eine Vorlesung im Hörsaal I. Es ging um den Zauberberg, das war mein Thema. Ich brauchte das Abitur. Erikson gab mir den Rat, mich an Dr. Liebe im Auswärtigen Amt zu wenden, sie organisiere einen Vorbereitungskurs für das Externenabitur. Als ich telefonisch erfuhr, dass ich mich erst für den Kursbeginn im nächsten Jahr anmelden könne, weil jetzt keine Aufnahme mehr möglich sei, entschloss ich mich, bis dahin von meiner Abfindung zu leben. Ich schob meinen Traum beiseite, und was ich eben noch klar erkannt hatte, war vergessen. Grandmère hatte mich nach Paris geschickt. Der Junge soll sich nach der harten Militärzeit erst einmal erholen, sagte sie, und gab mir so viel Geld für die Reise, dass ich das Hotel bezahlen konnte. Sie bat mich, ihr eine Ansichtskarte mit der Sainte Chapelle zu schicken und Französisch zu lernen. 

Bevor ich nach Paris fuhr, fiel die Einladung meiner amerikanischen Tante vom Himmel. Zwei Monate lang gab ich Tag für Tag Nachhilfe, um die Tickets für den Flug und die Greyhound-Busse zu finanzieren. Zwei Wochen hielt ich mich in New Jersey auf, besuchte mit meiner Cousine Princeton und New York. Wir strichen das Haus meiner Tante in Somerset. Nun hatte ich Reisegeld. Dann ging es los – die Niagara-Fälle, Chicago, Yellowstone Park, Salt Lake City, Francisco – endlich Flagstaff, Grand Canyon Village. Den Rucksack deponierte ich im Hotel Grand Canyon Lodge. Der Blick auf das endlose, tief eingeschnittene Felsenrelief machte mich schwindlig. Ich blieb sechs Tage in der Schlucht. Ich schlief auf meiner Decke im Freien am Bright Angel Creek vor seiner Einmündung in den Colorado.

großes tal. rot adernde torsos. falten fiebern. lebendsteine wachsen zum blauleeren himmel. augen wandern von rand zu rand horizonten. baumfragmente splittern im luftsog. zitterndes farbenwandern zum tiefen loch illusion. schreie gerinnen in spalten von felseneinsamkeit. wehen kühl wider. lachender hirnhall. taub ohrt das tal. schmaler lall stummer ideen von todnatur und schattenspiel. nichts wandelt welt. kein warten auf sternschnuppenlange hoffnung. echo verlorener zukunft. ruhe sanft – 

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.