Vielschichtiges Romandebüt zwischen den Kulturen

In „Die letzten Strahlen eines Sterns“ erzählt und verschränkt Amanda Lee Koe die Lebensgeschichten von drei weltberühmten Schauspielerinnen und greift dabei auch zentrale gesellschaftliche Themen unserer Zeit auf

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Berliner Presseball 1928 hält ein Fotograf die zufällige Begegnung von drei ganz unterschiedlichen Frauen fest, die später große Karrieren machen und deren Lebenswege sich fortan immer wieder kreuzen sollten: Marlene Dietrich, Anna May Wong und Leni Riefenstahl. Die in Singapur geborene und heute in New York lebende Amanda Lee Koe nimmt diese Begegnung zum Ausgangspunkt ihres vielschichtigen Debüt-Romans. Stück für Stück setzt sie auf wechselnden Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven das Leben ihrer Protagonistinnen zusammen und bedient sich dabei sowohl historischer Fakten als auch eigener Fiktionalisierung:

Anna May Wong wächst demnach in ärmlichsten Verhältnissen in China-Town in Los Angeles auf und begeistert sich früh für das Kino und das Filmgeschäft und will „mehr als alles andere“ ein Teil davon werden. Sie schafft es dann auch hollywoodreif nach Hollywood, wo sie aber aufgrund eines rassistischen Film-Kodex immer nur stereotype Rollen bekommt und die asiatischen Hauptrollen mit weißen Schauspielerinnen besetzt werden. So versucht sie ihr Glück in Europa. Am Tag nach dem Presseball wird sie von Walter Benjamin, dessen tragisches Schicksal in der NS-Zeit hier auf berührende Weise eingeflochten wird, für die Literarische Welt interviewt.

In umgekehrte Richtung wie Anna May geht Marlene Dietrich bald nach Hollywood und wird dort von John von Sternberg, mit dem sie zugleich ein Verhältnis hat, zum Weltstar. In Shanghai Express spielt sie dann mit Anna May Wong an ihrer Seite und wie schon bei ihrer ersten Begegnung in Berlin funkt es zwischen ihnen gewaltig. Im Zweiten Weltkrieg stellt sich Marlene Dietrich konsequent auf die Seite der Alliierten und singt für die GI’s der Front – um dafür später in Deutschland beleidigt und bespuckt zu werden.

Im Gegensatz dazu macht Leni Riefenstahl sich mit dem Nazi-Regime in Deutschland gemein und lässt sich als die große Künstlerin, für die sie sich selbst hält, von Hitler protegieren und von Goebbels ihre Filme bezahlen. In den Kriegsjahren dreht sie abgeschieden in den Alpen ihren Film Tiefland mit sich selbst in der Hauptrolle und nutzt skrupellos als Statisten Sinti und Roma aus einem nahegelegenen Lager der Nazis.

In der Revue lernen wir drei ganz unterschiedliche Frauentypen über den Verlauf von mehr als einem halben Jahrhundert kennen: Die spontane, lebenslustige und leicht vulgäre femme fatale Marlene, die kontrollierte, berechnende und höchst disziplinierte Leni sowie die nach Anerkennung und Orientierung suchende Anna May.

Die letzten Strahlen eines Sterns ist ein Roman, der mit der Zeit immer mehr Tiefe und Originalität entwickelt, spannende Nebenstränge eröffnet und verblüffende Episoden bietet. Zu heimlichen Hauptfiguren werden dabei die chinesische Haushälterin von Marlene Dietrich in Paris und ihr heimlicher, Rilke-Gedichte zitierender Telefonverehrer „Bogie“ alias Ibrahim, der eine türkische Mutter und einen deutschen Vater hat und an der innerdeutschen Grenze den Tod findet: „Er würde stets der falsche Mensch sein, am falschen Ort, zur falschen Zeit“. Mit diesen Nebenfiguren knüpft Amanda Lee Koe auch an ihren hoch gelobten Kurzgeschichtenband Ministerium für öffentliche Erregung an, in dem sie von Menschen am Rande der Gesellschaft erzählt.

Die Autorin, die sich selbst als „gespaltene Existenz“ zwischen Ost und West sieht, verhandelt anhand ihrer drei Protagonistinnen und Nebenfiguren auch eine Reihe von hochaktuellen gesellschaftlichen Themen: Die Emanzipation und Gleichberechtigung von Frauen, den Rassismus und die kulturelle Aneignung, die fatale Verbindung von Kunst und Politik sowie die schwierige Identitätsfindung zwischen den Kulturen und Geschlechtern.

Auf den letzten Seiten ihres Romans läuft Amanda Lee Koe schließlich zur literarischen Höchstform auf: Sie lässt Bèibèi, die chinesische Haushälterin von Marlene, nach einer Odyssee wieder in ihrer Heimat landen und im Pekinger KFC kurz nach dem Massaker vom Tiananmen-Platz ein grandioses Zwiegespräch mit dem Großen Vorsitzenden führen. In Berlin fällt fast parallel die Mauer und die hinfällige Marlene rafft sich in ihrer über Jahre abgedunkelten Pariser Wohnung zu einer letzten großen Kraftanstrengung auf und öffnet das Fenster: „Marlene atmete tief ein und fing an, die Sonne niederzustarren.“

Titelbild

Amanda Lee Koe: Die letzten Strahlen eines Sterns.
Aus dem Englischen von Zoë Beck.
CulturBooks, Hamburg 2022.
472 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783959881531

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