Es gibt ihn noch, den «guten Russentisch»: Die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland waren immer eng, und das dürfen wir gerade jetzt nicht vergessen

Berlin, das war einmal ein kleines St. Petersburg. Für russische Schriftsteller, Malerinnen und Musiker war es Anfang des 20. Jahrhunderts selbstverständlich, in Deutschland zu verkehren. Die Slawistin Christiane Bauermeister erinnert daran.

Klaus-Rüdiger Mai
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Die Ablehnung des Krieges ist das eine, das andere könnte die Erinnerung daran sein, was Russland und Deutschland kulturell verbunden hat: Kundgebung vor dem Brandenburger Tor im März dieses Jahres.

Die Ablehnung des Krieges ist das eine, das andere könnte die Erinnerung daran sein, was Russland und Deutschland kulturell verbunden hat: Kundgebung vor dem Brandenburger Tor im März dieses Jahres.

Imago / Olaf Schuelke

Das ist ein exzellentes Erinnerungsbuch: das Buch von Christiane Bauermeister über die Zeit von 1978 bis in die jüngste Vergangenheit, in der die deutsche Slawistin so viel für die kulturellen Kontakte zwischen der Bundesrepublik und Russland getan hat. Heute ist vieles, wenn nicht alles anders, als sie es beschreibt.

Nicht die Menschen, nicht die Geschehnisse haben sich verändert, aber das Entsetzen habe einen Riss entstehen lassen, der durch einen selbst verläuft. Niemand im Westen hatte ernsthaft mit der Rückkehr des Krieges gerechnet. Europa wurde, wie man salopp sagt, «kalt erwischt», auch die Deutschen, deren Russlandbild zwischen Leo Tolstoi und Ivan Rebroff schwankt.

Bauermeisters Buch «Der gute Russentisch» ist ein farbiges, pointiert erzähltes Kompendium russisch-deutscher Kulturbeziehungen bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Und es ist von einer Autorin geschrieben, die weiss, wovon sie spricht. Nach ihrem Slawistikstudium wurde Christiane Bauermeister so etwas wie die «Russland-Beauftragte» der Berliner Festspiele und ermöglichte russischen Künstlern, Dichtern, Schriftstellern, Malern, Komponisten, Regisseuren und Schauspielern, den Eisernen Vorhang zu passieren, um im Westen aufzutreten.

Exil oder Rückkehr?

So machte sie auf ihre subtile und kluge Art den Eisernen Vorhang beharrlich durchlässiger. Dabei knüpfte sie geradezu an einen Mythos an, an das russische Berlin, wo sich in der Zwischenkriegszeit, vor allem zwischen 1918 und 1933, die russische Avantgarde traf, hin- und hergerissen zwischen der Entscheidung für das Exil oder für die Rückkehr zu Mütterchen Russland.

Der grosse Kenner der russischen Moderne, der Slawist Fritz Mierau, gab 1987 im Leipziger Reclam-Verlag die faszinierende Anthologie «Russen in Berlin. Literatur. Malerei. Theater. Film 1918–1933» heraus. All die grossen Namen, all die bedeutenden Schriftsteller und Dichter wie Marina Zwetajewa, Boris Pasternak, Wladimir Majakowski, Wladimir Nabokov, Andrej Bely und Viktor Schklowski – sie alle hielten sich zumindest eine Zeitlang in Berlin auf.

So lange jedenfalls, bis die Machtergreifung der Nationalsozialisten sie vertrieb, weitertrieb nach Paris, nach Mexiko, in die USA, manche wie schliesslich die Dichterin Marina Zwetajewa wieder zurück nach Russland, wo sie einen nur allzu frühen Tod fand. Ihr Verbrechen bestand darin, masslos in einer Welt nach Mass zu sein.

Zeiten, Menschen, Begegnungen

Nicht nur, dass Christiane Bauermeister die Erinnerung an die russische Avantgarde belebt, sie sprach auch mit den letzten Zeugen dieser Zeit. So erzählt sie anrührend von ihrer Begegnung mit einer der «Grossfürstinnen» der russischen Literatur, mit der damals 87-jährigen Lilja Brik, der Muse Wladimir Majakowskis. Nachdem sich Majakowski im April 1930 erschossen hatte, fand man einen Zettel, auf dem standen die letzten Worte des Dichters: «Lilja, liebe mich.»

Aber Christiane Bauermeister bleibt nicht beim Rückblick stehen. Sie interessiert sich auch für die Gegenwartskunst, für den Komponisten Alfred Schnittke zum Beispiel, oder die Schriftsteller Andrei Bitow, Lew Rubinstein oder Wladimir Sorokin. Für die Regisseure Otar Iosseliani und Andrei Tarkowski oder für Nikita Michalkow, der aus Bewunderung für das Zarenreich inzwischen zu einem Bewunderer von Wladimir Putin geworden ist. Sie alle werden in der Lektüre wieder lebendig.

So wird das Buch nicht nur zum Zeitdokument, es ist darüber hinaus mit Eleganz und Noblesse geschrieben. Unprätentiös und vergnüglich wird der Geist der Zeiten, der Menschen und der Begegnungen heraufbeschworen. Die Russen würden nach der Lektüre vermutlich sagen: «So ist das Leben.»

Politik ohne Illusionen

Der Titel des Buches spielt auf Thomas Manns «Zauberberg» an. In der trügerischen Sicherheit der letzten Tage Europas vor dem Ersten Weltkrieg reiste der werdende Schiffsingenieur Hans Castorp nach Davos, um seinen Vetter zu besuchen und ihm im Lungensanatorium Gesellschaft zu leisten. Was er dort als Erstes lernt, ist, dass ein guter wie ein schlechter Russentisch existiert. Am guten versammeln sich die reicheren Russen, mit den guten Manieren, die besser gekleideten. Niemand wusste, wie zerbrechlich diese Welt war. Inzwischen liegt die Welt von Davos drei Kriege von uns entfernt.

Putins Überfall auf die Ukraine hat zwar die Welt verändert, doch sollte man dem Diktator im Kreml nicht erlauben, unsere Erinnerung zu manipulieren. Es gibt ihn noch, den guten Russentisch. Künstler wie Wladimir Sorokin oder Wiktor Jerofejew leben im Ausland. Seit Kriegsbeginn, wenn man so will, im Exil. Weder Jerofejew noch Sorokin, noch viele ihrer Kollegen ausser- und innerhalb Russlands haben geschwiegen, sondern Putin und dessen Kamarilla kritisiert, den Diktator demaskiert und versucht, den Europäern dessen Denken und Motivation offenzulegen, auf dass niemand im Westen seine Politik auf Illusionen aufbaue.

Putin hat einen neuen eisernen Vorhang errichtet, um seine Diktatur, die Diktatur der «Silowiki», der KGB-Leute, dieses unfrohe, kalte, unkünstlerische, kulturlose Regime durchzusetzen, das nur auf Gewalt und Brutalität beruht. Gern würde er an die Zarenzeit anschliessen, doch seinem neuen Silowiki- und Oligarchen-Adel fehlt die Kultur, die Nonchalance des alten russischen Adels, der in der Oktoberrevolution untergegangen war. Sein Reich ist der zu Macht und Geld gekommene Hinterhof.

Was überlebt

Dass ein sozialdemokratischer Bundeskanzler zu Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und zu Verletzungen der Bürgerrechte schwieg und den Mann, der das ins Werk setzte, «einen lupenreinen Demokraten» nannte, bleibt freilich verstörend. Den demokratischen Kräften in Russland dürfte dies nachhaltig geschadet haben.

Das Schlechte in Russland hat das Gute besiegt – nicht zum ersten Mal. Als man ihn in den Kaukasus verbannte, schrieb der grosse russische Dichter Michail Lermontow im 19. Jahrhundert:

«Lebwohl, du liederliches Russland,
Du Land der Sklaven, Land der Herr’n,
Auch ihr, ihr blauen Uniformen,
Du Volk, das unterwirft sich gern.

Der Kaukasus mag mich verstecken,
Damit die Büttel mich nicht stör’n,
Vor ihren allesseh’nden Blicken
Vor ihren Ohr’n, die alles hör’n.»

Lermontows Dichtung hat überlebt.

Christiane Bauermeister: Der gute Russentisch. Transit-Verlag, Berlin 2022. 168 S., Fr. 28.90.

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