Gerade so schön wie der «Tod in Venedig», nur nicht ganz so tödlich

Heinz Strunk hat eine spektakuläre Sündenparabel geschrieben. Und er zelebriert darin eine grosse Menschenfreundlichkeit.

Paul Jandl
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Heinz Strunk schickt seinen Helden nach Niendorf an die Ostsee, von wo dieser glücklich zurückkommt, anders glücklich jedoch, als er es erhofft hatte.

Heinz Strunk schickt seinen Helden nach Niendorf an die Ostsee, von wo dieser glücklich zurückkommt, anders glücklich jedoch, als er es erhofft hatte.

Dennis Dirksen

Der Hamburger Schriftsteller Heinz Strunk ist ein Meister literarischer Abstiegsbeschreibungen. In seinen Romanen geniesst das Personal die Freiheit des freien Falls, bis es ganz unten aufschlägt. Endstation Kneipe. Dieses Muster Strunks hat sich im bisherigen Werk auf grazilste Weise bewährt und Milieuschilderungen hervorgebracht, die zu den grossen Leistungen der deutschen Prosa gehören. Jetzt legt der Autor noch einmal nach. Er wächst über sich hinaus, bis er fast aussieht wie Thomas Mann und Strunks neues Buch «Ein Sommer in Niendorf» wie «Der Tod in Venedig».

«Etwas Stegreifdasein, Tagedieberei, Fernluft, Zufuhr neuen Blutes», wünscht sich Thomas Manns reisebereiter Dichter Aschenbach im «Tod in Venedig». Sehr Ähnliches erhofft sich ein gewisser Dr. Roth, als er nach Niendorf an der Ostsee aufbricht. Für drei Monate. Dann will er als Wirtschaftsanwalt einen neuen Job antreten. Drei Monate in einer schäbigen Ferienwohnung, auch um aus der Familiengeschichte, die eine Unternehmergeschichte ist, einen Roman zu machen.

Sechsundzwanzig Stunden Gespräche mit Verwandten auf Tonband und neunzig Tage Zeit, das müsste für einen Anfang genügen. Aber der im Massanzug angereiste Dr. Roth hat seine Rechnung ohne den Wirt gemacht. Genau genommen, gibt es in Niendorf ziemlich viele Wirte. Als hochgefährlich erweist sich Herr Breda, der Ferienwohnungsverwalter, Strandkorbvermieter und Besitzer des Ladens «Likördepot» in Personalunion ist. Der ausgemergelte Herr Breda ist eine Art Satan des Saufens. Er umschmeichelt den neuen Gast mit frisch eingetroffenem Rum oder Brandy und empfiehlt ihm Lokale, die «Brimborium» oder «Spinner» heissen.

Lauter gestrandete Menschen

Dass in Niendorf eine Tafel an die berühmte Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1952 erinnert, bei der Paul Celan und Ingeborg Bachmann gelesen haben, macht die Fallhöhe zwischen den literarischen Ambitionen Dr. Roths und den realen Verhältnissen seines Aufenthalts schmerzlich spürbar. Auch von «Edeka Jens» holt sich der über die Wochen zusehends verlotternde Jurist seine Fischbrötchen und Flaschen, während Bruchstücke des gescheiterten Familienlebens bekannt werden. Die von Herzen ungeliebte Tochter braucht Geld, die Ex-Frau steckt in einem religiösen Wahn. Dr. Roth allerdings immer öfter im «Spinner». Dort liegt schwerer Fernfahrergeruch in der Luft. Über den Trinkern «senfgelbe, wärmflaschengemütliche Schummerbeleuchtung».

Es ist nicht nur «Nightmare in Niendorf», manchmal ist es auch richtig schön. «Niendorf, ein unvorstellbarer, ein postumer Ort, wie das Ausatmen in der Zeit zwischen den Geschehnissen.» So sieht im unglamourösen Ostseeort Glück aus: «Die Würgeschlinge der inneren Unruhe lockert sich ein wenig.»

Heinz Strunks spektakulär schöne Sündenparabel ist vielleicht nicht ohne Grund am Meer angesiedelt. Hier sind Menschen gestrandet, die die Herrschaft über ihr Leben verloren haben und sich die Abende mit Herrengedecken schöntrinken. Man kommt hier nicht weg, und wie Aschenbach sein Venedig, wird Dr. Roth sein Niendorf nicht mehr verlassen. Im Gegensatz zu Aschenbach, der am Ende tot ist, beginnt Heinz Strunks Tourist am Meer ein neues Leben.

Der Roman ist eine Verkettung unromantischster Umstände, in denen dem Autor auch noch die Beschreibung eines der traurigsten Geschlechtsakte der Literatur glückt. Das Wort «Knethand» sei hier stellvertretend für andere genannt. Am Ende gibt es aber doch noch die grosse Romanze.

Zerplatzte Träume

Anders als der grossbürgerliche Thomas Mann, der sich den Abstieg als kariös voranschreitende Entgeistigung vorstellt, hat der kleinbürgerliche Heinz Strunk eine ganze Theorie der Selbstachtung entwickelt. Bei ihm ist Selbstachtung jener fluide Bereich zwischen Überheblichkeit und Empathie, der sich alle Chancen offenhält. Kann man das Niveau halten, fühlt man sich als Davongekommener zur Überheblichkeit berechtigt. Muss man die Gesellschaftsschicht wechseln, braucht es Empathie.

Im Grunde funktionieren die Sätze, die Dr. Roth im Roman denkt, mehr und mehr auf diese Art. «Ein Sommer in Niendorf» ist auch ein Empathie-Entwicklungsroman. In der Vergröberung des Lebens braucht es, entgegen allen Annahmen, eine Verfeinerung der Gefühle. «Die Bedienung ist jung, drall, dümmlich, irgendwie unverschämt und lädt zum Träumen ein», denkt der bedürftige Herr Roth über die Thekenkraft Savina aus dem «Brimborium». Er wird sich gerechterweise eine schwere Abfuhr holen.

Mit den Wellen des Meeres bei Niendorf atmet Heinz Strunks Roman seine grosse Menschenfreundlichkeit. Aufstieg und Fall sind uralt und immer wieder neu. Das Praktische am Abstieg: Man weiss, was auf einen zukommt. Von oben sieht man schon, was unten ist.

Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf. Roman. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2022. 240 S., Fr. 32.90.

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