Eine Grossmutter bringt Karl Marx nach Kaiserslautern und propagiert den Klassenkampf

Im neuen Roman von Christian Baron mündet die deutsche Nachkriegsgeschichte in einen kommunistischen Schwank.

Paul Jandl
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Der Schriftsteller Christian Baron schickt zwei Verlierer in den Daseinskampf.

Der Schriftsteller Christian Baron schickt zwei Verlierer in den Daseinskampf.

Hans Scherhaufer

Wann eigentlich hat die moderne Welt begonnen, über das Wort «Klassenkampf» zu lachen? In den siebziger Jahren liess Monty Python in einem Sketch Karl Marx auftreten. Beim «Kommunisten-Quiz» hätte Marx eine schrecklich braune Sofalandschaft gewinnen können, wäre er nach einem erfolgreichen Vorgeplänkel über das Wesen des Klassenkampfs nicht an der Frage gescheitert, wer den englischen Fussball-Cup im Jahr 1949 gewonnen hat. Der Philosoph musste ohne Sofalandschaft nach Hause fahren.

Zur gleichen Zeit in Kaiserslautern. Oma Hulda ist ringsum die einzig aufrechte Kommunistin. Sie glaubt daran, dass die Arbeiter den Kapitalisten das Handwerk legen müssen, und indoktriniert auch noch die Enkel, bis sie mit ihren Kinderstimmen Sätze aus den Schriften von Karl Marx vervollständigen.

Oma Hulda ist die Mutter von Willy, einer der Hauptfiguren in Christian Barons «Schön ist die Nacht». Der autobiografische Roman wiederum besteht aus zwei Familiengeschichten. Eher traurig als witzig, geht das Buch der Frage nach, wie Menschen, die ganz unten sind, nach oben kommen können. Es bleibt bei Aufstiegsversuchen. Sein und Haben, Klasse sein und Klasse haben, sind zwei verschiedene Dinge, wie man nach fast vierhundert Seiten voller Alkohol ernüchtert feststellt.

Zwei arme Hunde

Im Roman trifft man mit Horst und Willy auf zwei Menschen, die sich während einer Bombennacht des Jahres 1944 in den Strassen von Kaiserslautern kennengelernt haben. Nach dem Krieg wollen sie ihr bisschen Leben in die Hand nehmen. Dabei zelebrieren sie ein Verhältnis zueinander, das man heute wohl toxisch nennen würde. Willy übers Ohr zu hauen, gehört zu Horsts Freundschaftsdiensten, während Willy dem Horst das unermüdlich nachsieht.

Der nur bei Gelegenheit arbeitende Horst ist der noch ärmere Hund, Willy immerhin Zimmerer, sonst ähneln sich ihre Geschichten. Trinkabende im Lokal «Goldmine». Ehefrauen, die ihrerseits Getränken zugeneigt sind. Und zu viele Kinder. Bei Willy sind es sieben Töchter, die es später einmal schaffen sollen, aus dem Kaiserslauterer Arbeiterviertel Kotten herauszukommen.

Aber bei Willy und Horst (der im Nachnamen wie der Autor heisst) folgt auf jeden kleinen Aufstieg zuverlässig der Fall. Bisschen was dazuverdienen durch Betrügereien, Automaten knacken, Diebstahl. Sich dabei erwischen lassen. Und schon geht es wieder von unten los. Christian Barons Figuren sind Fälle für das Sozialamt im Herzen des Lesers. Man wünscht diesen Menschen Glück und weiss, dass sie ein paar Seiten später wieder auf der Matte stehen werden.

Es gibt ein Problem bei dem Roman «Schön ist die Nacht». Er will authentisch aus einem bestimmten Milieu erzählen, erschafft aber nur Typen. Seine Folklore des Arbeiterschicksals speist sich aus einer fast schlagerhaften Idee vom unglücklichen Mann: Eigentlich möchte er ja, hat aber immer Pech. In der Liebe, bei der Arbeit. Im Roman kommt noch ein soziologisches Umfeld dazu, das die Sache aber auch nicht greifbarer macht. Wir sind in den siebziger Jahren. Durch Gastarbeiter ist der Druck auf dem Arbeitsmarkt gestiegen.

Sprachlicher Klassenkampf

Jede Niederlage wird in Christian Barons Roman leider sofort in einen unkontrollierten Selbstverlust der Figuren umgemünzt. Es ist fast wie im Comic, und da kommt die Sprache von «Schön ist die Nacht» noch dazu. «Wir nix verstehen», sagen die Türken. «Ich muss was zwischen die Kiemen kriegen», sagt Horst. Der Erzähler des Romans redet allerdings auch nicht anders. «Wollte der Quastersack etwa die Bullen anlocken?», heisst es da. Allen Ernstes lüpfen die Leute im Buch ihre Dunstkiepen oder haben wippende Kippen in der Kauleiste.

Dass diese sprachliche Konfektionsgrösse manchmal auch überwunden wird, macht den sonstigen Mangel allerdings nur noch spürbarer. Von der «Überunskunst der Wolken» spricht Willy mit seiner siebenjährigen Tochter. «Wenn man die Wolken, also die grösste aller Überunskünste, auch nur eine Sekunde aus dem Blickfeld liess, dann schwand sie schon im Wind.» So geht Sentimentalität. Oder auch so: «Alle reden vom Trinken, keiner vom Durst.»

Es gibt einen Vorläuferroman zu «Schön ist die Nacht», Christian Barons deutlich autobiografisches Debüt «Ein Mann seiner Klasse». Man müsste es jetzt eigentlich noch einmal lesen, denn es ist sozusagen die Fortsetzung des neuen Romans. Ein Kind wächst während der neunziger Jahre in einer Familie auf, von der sich der Erwachsene dann endgültig emanzipiert haben wird. Zu dieser Familie gehört alles, was auch in «Schön ist die Nacht» vorkommt. Alkohol, Gewalt, prekäre finanzielle Verhältnisse.

«Ein Mann seiner Klasse» ist Psychologie und Theorie in einem. Ein durch eigene Milieuerfahrungen belichtetes Bild, neben dem Barons jetziges Werk wie Persiflage wirkt. Klassenkampf als Euphemismus für unveränderbare Verhältnisse. Jeder ist so, wie er niemals sein wollte, aber immer bleiben wird. Als philosophisches Über-Ich dieser drögen Lage hält Oma Hulda aus Kaiserslautern mit ihren verkürzten Marx-Zitaten die Stellung. «Das Sein bestimmt . . .», sagt sie. Und die siebenjährige Enkelin ergänzt in fröhlicher Zackigkeit: «. . . das Bewusstsein.»

Christian Baron: Schön ist die Nacht. Roman. Claassen-Verlag, Berlin 2022. 384 S., Fr. 34.90.

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