Nobelpreisträger Soyinka legt einen neuen Roman vor – nach fast fünfzig Jahren! Darin geisselt er die Korruption und die schamlose Bereicherung in seiner Heimat

Der nigerianische Schriftsteller rechnet in einem späten Werk mit seinem Land ab. Das Buch ist faszinierend und verstörend zugleich.

Thomas Brückner
Drucken
Auf die Schutzgottheit setzt er kein Vertrauen mehr: Wole Soyinka 2009 in Kalifornien.

Auf die Schutzgottheit setzt er kein Vertrauen mehr: Wole Soyinka 2009 in Kalifornien.

Ann Johansson / Corbis / Getty

Wole Soyinka, der Grandseigneur der modernen afrikanischen Literaturen, hat einen dritten Roman geschrieben. In gewisser Weise vollendet der Schriftsteller damit nach fast fünfzig Jahren eine Trilogie – auch wenn diese ursprünglich kaum in seiner Absicht gelegen haben wird.

Den Anfang machte 1965 «The Interpreters». Soyinka beschrieb darin die desillusionierende Erfahrung der Unabhängigkeit – am Beispiel von fünf Freunden. Sie sind Intellektuelle, die die Gesellschaft «auslegen», sich aber nicht zu Tätigsein aufraffen können. Sprachmächtig und satirisch erfasst das Buch den Zustand der nigerianischen Gesellschaft in den 1960er Jahren.

Der zweite Roman, «Season of Anomy» (1973), benutzte den antiken Mythos um Orpheus und Eurydike, um gesellschaftliche Veränderungen zu fordern. Wieder sind es zwei Intellektuelle, Künstler und Zahnarzt, die im Mittelpunkt des Aufbegehrens gegen die Mächtigen und für eine stärker egalitär organisierte Gesellschaft für alle Menschen stehen. Noch regiert Hoffnung.

Einmal noch die Welt retten

2021 folgt der dritte Roman, auf Deutsch erscheint er nun als «Die glücklichsten Menschen der Welt». Wole Soyinka hält seinem Land darin satirisch den Spiegel vor. Wieder einmal. Wortmächtig und bildgewaltig, zwischen derb und hochfein changierend, geisselt er die allgegenwärtige Korruption, die Heuchelei, das Intrigantentum und die schamlose Bereicherung – die nicht vor grausigstem Mord zurückschrecken. Und Soyinka geht ins Gericht mit der Perspektivlosigkeit, der scheinbaren Ausweglosigkeit angesichts des Siegs des Verbrechens und dem Verlust der Menschlichkeit.

Im Roman schwören vier Freunde, die sich seit Schulzeiten kennen, unweit der nigerianischen Hauptstadt Abuja ein Rehabilitationszentrum zu errichten. Nach dem Studium verlieren sie sich jedoch aus den Augen; nur zwei halten noch Kontakt: der eine Ingenieur, der andere Chirurg. Die Vollendung ihres gemeinsamen Projekts zum Wohle der Menschen rückt in weite Ferne.

Erst, als es angesichts der mörderischen Aktivitäten von Boko Haram und der Einsetzung der Scharia im islamisch geprägten Norden des Roman-Nigeria zu unzähligen traumatisierten Opfern kommt, erinnern sich die beiden Protagonisten wieder an das Projekt. Es wird umso dringlicher, als Vertreter des organisierten Verbrechens Körperteile aus dem Krankenhaus stehlen, an dem der Chirurg tätig ist. Diesen fordern die Kriminellen unverblümt auf, künftig als Zulieferer zur Verfügung zu stehen.

Zeitgleich tobt der Wahlkampf um das Präsidentenamt, und ein dubioser Heilsbringer treibt sein Unheil mit einer aus Versatzstücken der grossen Religionen zusammengeschusterten Ideologie. Als der Ingenieur einen leitenden Posten bei der Uno übernehmen soll, überschlagen sich die Ereignisse.

Ein später Schlüsselroman

In der Folge machen Personen der jüngeren und jüngsten nigerianischen Zeitgeschichte – kaum verhüllt – ihre Aufwartung. Der dritte Roman des inzwischen 88-Jährigen ist eindeutig ein Schlüsselroman. Unschwer lassen sich Ereignisse aus der jüngsten Geschichte Nigerias herausfiltern; das Buch ist auch eine Mischung aus Journalismus und Fiktion.

Gleichzeitig scheint in vielen Episoden Soyinkas gesamtes dramatisches Werk auf: Die «Jero-Stücke» zum Beispiel, Satiren aus den 1960er Jahren, oder die «Opera Wonyosi», Soyinkas Lesart der «Dreigroschenoper» Brechts. Auch (in bewusst pervertierter Auslegung) sein wohl berühmtestes Theaterstück: «Death and the King’s Horseman». Leider haben diese Stücke nie den Weg auf deutsche Bühnen gefunden. Sie behandeln auf je eigene und unterschiedliche Weise, was im Mittelpunkt von Wole Soyinkas Philosophie steht: Alles hat sich in den Dienst an der Menschlichkeit zu stellen.

Die Gottheit schützt nicht mehr

Soyinka reagiert mit dem Spätwerk auf den Zustand der eigenen Gesellschaft – getreu seinem Song «I Love My Country», der eine satirische Antwort auf die dreijährige Haft wegen hochverräterischer Umtriebe war. Neue Bedeutung erlangt auch Ogun, eine einflussreiche Gottheit aus dem Pantheon der nigerianischen Yoruba.

Ogun war der Erste, der Pfade schlug, ein Entdecker, Forscher, Schöpfer. Gleichzeitig Gott des Eisens und des Krieges, Zerstörer, Vernichter. In dieser Ambivalenz war er Schutzpatron aller, die ehrlich schöpferisch neue Wege beschritten – neue Pfade schlugen – oder mit eisernem Werkzeug ihren Lebensunterhalt bestritten, und damit in jüngerer Zeit zum Beispiel auch der Taxifahrer, Friseure, der Ärzte, Ingenieure.

Als dialektisches philosophisches Prinzip war Ogun im Werk des Nobelpreisträgers stets präsent. In gewisser Weise ist er sogar ästhetische Grundlage. Doch im jüngsten Roman hat die Schutzgottheit ihre Macht verloren. Politische Macht und religiöse Verlogenheit gewinnen die Oberhand. Die Schutzbefohlenen verkommen zu Schatten – zwar der Welt und dem Genuss zugewandt, aber ohne Vorstellungs- oder Lebenskraft, ziellos. Schon wieder sind sie nur noch Zuschauer, Beobachter, «Ausleger».

Im Zentrum: Menschlichkeit

Höchst kunstvoll verknüpft Soyinka bildgewaltig sein umfangreiches Personeninventar mit den verschiedenen Handlungssträngen und bettet alles in eine Geschichte, die auf den ersten Blick an einen gut konstruierten Kriminalfall erinnert. Realistisches Abbild, naturalistisch anmutende Beschreibung, philosophisches Traktat und an mündliche Dichtung erinnernde Passagen fügen den Roman zu einer lohnend-anstrengenden Lektüre voll sardonischer Kraft und farcenhaftem Witz und Zorn und Zynismus.

Dazu kommt das Grauen ob der zu beschreibenden Abscheulichkeiten – die aktuelle «condition humaine» ist mit Mitteln der «von Anfang bis Ende gut durcherzählten Geschichte» nicht mehr zu erfassen. Sie muss entblösst, in ihrer erschütternden Nacktheit gezeigt und gesehen werden, damit ins Bewusstsein rückt, worum es eigentlich geht – die Menschlichkeit!

Soyinka hat ein ernüchterndes Buch vorgelegt, das wenig Raum lässt für Hoffnungsvolles und gerade in der unerbittlichen Ehrlichkeit grossartig ist, mit der es die Gesellschaft seziert. Faszinierend und verstörend zugleich.

Wole Soyinka: Die glücklichsten Menschen der Welt. Aus dem nigerianischen Englisch von Inge Uffelmann. Blessing-Verlag, München 2022. 656 S., Fr. 34.90.