Politische Lyrik, ein österreichischer Kanon

Von Klaus Zeyringer. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 78

Online seit: 12. August 2022
Klaus Zeyringer
Klaus Zeyringer

Große Literaturgeschichten aus bundesdeutschen Federn sowie Qualitätszeitungen in Berlin, Frankfurt, Hamburg, München kennen Namen und Werke österreichischer Lyriker nicht, die ihre Sprachkunst mit politischem Engagement verbanden: Weder diese Dimension von Nikolaus Lenau, noch Dichter des Vormärz, weder Heimrad Bäcker noch die vielen einschlägigen Texte der 1980er-Jahre. Sie kennen sie nicht oder halten sie für Provinzliteratur, und die Feuilletons besprechen eine solche heutige Lyrik aus Österreich kaum je. Schlimmer: Sogar das Österreichische Literaturmuseum verschweigt diese Traditionslinie, die doch so großartige Werke hervorgebracht hat.

Getheiltes Loos mit längstentschwundnen Streitern
Wird für die Nachwelt unsre Brust erweitern.
Daß wir im Unglück uns poetisch freuen
Und Kampf und Schmerz, sieglosen Tod nicht scheuen.

Diese Verse stammen vom österreichischen Dichter Nikolaus Lenau. Sie stehen 1842 in Die Albigenser und setzen seine Reihe politischer Lyrik fort, wie er sie ein Jahrzehnt zuvor mit Am Grab des Ministers *** und An einen Tyrannen angesetzt hat. Zur selben Zeit, im reaktionären Vormärz, rüttelten die Verse von Anastasius Grün und Moritz Hartmann auf, veröffentlichte Karl Beck seine Lieder vom armen Mann, in denen er die Not der Fabrikarbeiter vor Augen führt: „Da kommen geschlichen, / Vermagert, verblichen, / Aus den Fabriken der Reichen, / Aus den Gehöften ihrer Treiber, / Die Männer, die Weiber, / Ein langer, langer Zug von Leichen.“ Beck sei ein „Talent, wie seit Schiller keines aufgestanden ist“, urteilte Friedrich Engels.
Und Julius Seidlitz betonte damals, der Schriftsteller müsse „Veraltetes zertrümmern“, moderne Poesie sei „weniger Ideal, mehr Wirklichkeit“. In diesem Sinne beginnt Alfred Meißner 1846 in den Ziska-Gesängen seine Absage an idyllisierende Dichtung.

Umsonst will uns die Poesie bereden,
Daß diese arme Erde sei ein Eden.
[…]
Ein Rufen ist’s von Armen, Unterdrückten,
Aus Nacht, aus Fesseln, Geisteszwang und Noth.

Mehr als hundert Jahre später schrieb H.C. Artmann seine Antwort auf eine politische Entscheidung. Er protestierte lyrisch „gegen das makabre kasperltheater“ der Einführung des österreichischen Bundesheeres. Seine Sprachkunst baute er auf viele Traditionen, sein poetisches Manifest gegen die Wiederbewaffnung ruft Vorgänger des Wiener Volkstheaters und des Vormärz auf, die wirkmächtige Literaturhistoriker im Bett des Vergessens schlafengelegt haben:

ein österreich
das nach wiederbewaffnung schreit
ist mit einem quakfrosch zu vergleichen
der mit bruchband und dextropur versehen
einen antiken dragonersäbel erheben wollte…

Bedenkt man die lange Reihe politischer Lyrik aus Österreich nicht, dann geht man nicht nur an wesentlichen Aspekten der Werke von Artmann und Jandl vorbei. Man übersieht auch Tendenzen, die bis heute starke Ausformungen zeitigen. Etwa die Häufung und Radikalität politischer Dichtung in den 1980er-Jahren, allen voran das gigantische Nachschrift-Werk von Heimrad Bäcker, gewiss ein Hauptwerk der Konkreten Poesie. 1986 erschien der erste Band, er zeigt, wie es literarisch möglich ist, das unfassbare System Auschwitz in Worten zu fassen. Zur gleichen Zeit kamen neben vielen anderen die auf die Politik des Verdrängens antwortenden Gedichte auf der insel der seligen von Gerhard Jaschke und Das Land des Lächelns von Arthur West, so unterschiedliche lyrische Aufschreie wie das dialektale „Macht / mecht / daß jeder / macht / und / nicht mie / mecht“ von Annemarie Regensburger und Vergangenheit bewältigt von Heinz R. Unger heraus.
In seinem Band stanzen schreibt Ernst Jandl unter dem Titel nach 45: „des woa ima a sozi / um den brauch maruns ned schean / owa de oamen glaanen jungen nazi / mias ma brodeschian bis zu uns ghean“. Und, jetzt hochaktuell:

vilächd häddma da sowjetunion
do a bissl fria höffn soin
doss uns olle medanaund ned
so fuachtboa hingschdraad häd

Auf diesem literarhistorischen Boden bieten Ludwig Laher, Petra Ganglbauer und Gerhard Ruiss drei unterschiedliche Beispiele heutiger Lyrik mit politischem Anspruch.
Bei Laher, der den ersten Band von Heimrad Bäckers Nachschrift als eine seiner wichtigsten Leseerfahrungen nennt, ist die Verbindung zur kritischen Dichtung des Vormärz am deutlichsten. Er hat 2003 einen Roman über Ferdinand Sauter publiziert und 2017 eine Auswahl von dessen Werk herausgegeben. Dessen Gassenlied fand damals eine ungemein starke Verbreitung, zum Gassenhauer wurde besonders die Strophe: „Auf der Gassen waltet Gleichheit / Zwischen Armut, zwischen Reichheit, / Arme betteln, Reiche prassen / Auf der Gassen, auf der Gassen“. Vielen galt das Gedicht als „wohl furchtbarste Satire auf das reaktionäre Österreich“, wie Alfred Meißner 1841 an Moritz Hartmann schrieb. Umso mehr bedauerte Laher im Gespräch (2021 im Porträtband, den ihm die Zeitschrift Die Rampe widmete) die „Defizite und Schieflagen der österreichischen Germanistik“: Als er den Roman über Sauter, „den hellwachen Meister der kleinen Form“, geschrieben habe, sei er auf editorische Abgründe gestoßen: „Wenn, zugespitzt formuliert, den Servietten, die Thomas Bernhard bei seinen Wirtshausbesuchen zum Mundabwischen verwendete, mehr germanistische Aufmerksamkeit geschenkt wird als Leben und Werk Ferdinand Sauters, dann läuft etwas sehr schief.“
Aus der Feder von Ludwig Laher stammen folgende Verse:

sieh n.n. steht gewehr bei fuß mikro bei hand schon
für wann’s again los geht auf dem nächtlichen balkon
vom luxushotel im stadtzentrum der strafexpedition

Sie stehen im 2003 publizierten Band feuerstunde, der Politisches, in diesem Fall den Gestus militärischer Konflikte und die Kriegsgeilheit der Medien dekonstruiert – wie Laher in seinem gesamten Werk sozialkritisch vorgeht.
Das Buch trägt den Untertitel „gedichte aus nah und inferno“, es beginnt mit einer Genesis aus dem Militärischen heraus, das uns heute erneut näherrückt: „im anschlag war das / gewehr und das gewehr / war auf einem hügel“. Der Doppelmoral der Täter, die die „unschuld / von ihren händen waschen“ (immerhin im Enjambement) stehen ungewöhnliche Zusammensetzungen gegenüber, die Schrecken und Grausamkeit verstärken wie „urangeschoßverdauungsgestört“. Die Lektüre zwinge in die Schrecken der Bilder, beobachtet Petra Ganglbauer und schätzt ein „radikales und mutiges sprachliches, politisches und sozialkritisches literarisches Vorgehen“.
Sie selbst entwickelt ihre Sprachkunst, seit sie 1984 mit dem heute noch stärker bezeichnenden Titel Feindlich vor der Zeit hervortrat. Sie verbindet Konkretes mit Imaginärem, Wundervolles und Entsetzliches, Traum und Gewalt. Im Band Permafrost heißt es: „Dieses Einsamkeitsgeschüttel nach dem Schreckensschlag der Nachrichten“. Ihre Gedichte in Gefeuerte Sätze sind meist knappe Überlappungen von Bedeutungsebenen und Wortgefilden: „Lodertage, brennende Gesichter im / Über Wasser, dem letzten / Wegstück, aufgegriffen und getarnt / Wie Asyl, wie Abneigung / (Ende der Flucht: / Ende.)“ Mitunter sind Poesie und Politik auch ohne Umschweife zusammengeführt wie 2006, zwei Jahre vor der Finanzkrise, vierzehn Jahre vor Corona, im Buch der himmel wartet eine Reihe – in der Rezeption möglicherweise eine Kollision – von Stehsätzen.

Wie Anleger optimal reagieren:
Die Zeit drängt. Gehen Sie kein Risiko ein!
Wie groß ist die Besorgnis der Investoren?
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Über eine große Bandbreite verfügt auch die Lyrik des H.C.Artmann-Preisträgers Gerhard Ruiss, dessen Traditionslinie bis Oswald von Wolkenstein zurückreicht: Sämtliche spätmittelalterliche Lieder des Südtirolers hat Ruiss ins Heutige übertragen, viele in neu vertonter Form gesungen. Er kennt Verknappungen der Konkreten Poesie, er lotet wie H.C. Artmann und Ernst Jandl Töne und Sprachbilder des Dialekts aus. Alfred Meißners „Umsonst will uns die Poesie bereden / Daß diese arme Erde sei ein Eden“ steht auch über seinem Werk, mit eindringlichen Bildern: „irritierend wär / vielleicht sogar ein geisterheer / in der roßau ein gewieher / doch ziehen schnarrend über den köpfen / vorüber den wind bis zum schwanz schwarz / gesträubt im gefieder / rabenlieder“. Pointiert sind bei Ruiss die Sozialstudien, die kollektiven Inszenierungen und die Machtverhältnisse in bündige Verse gepresst, mit anhaltend subversivem Oberton, ironisch angekratzt: „hosd / den frechn untaton / in mein / jawoi / gheat?“ Die Poesie ist für Ruiss (viele seiner Gedichte sind vertont) auch eine Gebrauchsform, nicht nur Salonwiese.

berufsbedingt:

der kanzler
kommt als erlöser
der installateur
kommt als installateur
der kanzler
geht als kanzler
der installateur
geht als erlöser

Kanzlergedichte veröffentlichte Ruiss 2006, die Kanzlernachfolgegedichte kamen 2017 heraus, ein dritter Band erscheint vermutlich demnächst. Von Schüssel bis Trump und Putin sind die „handelnden Personen“ bei ihren Reden und Wendungen genommen, die mitunter am Rand der Verse abgedruckt dastehen. Zu einer Pressemeldung, die deutsche Bundeskanzlerin sei von ihrem österreichischen Kollegen besonders herzlich begrüßt worden:

zugespitzt

wer lernen will
was politische propaganda ist
muss sehen wollen
wie merkel schüssel küsst.

Im Werk von Gerhard Ruiss erstehen Aufrisse heutiger Befindlichkeiten, Einblicke in Beziehungskisten, auf privatem und politischem Terrain.
Sein Engagement ist wie jenes von Ludwig Laher und Petra Ganglbauer ein ästhetisches und ein soziales, konkret jahrzehntelang für die Kollegenschaft, in der IG Autorinnen Autoren und in der Grazer AutorInnenversammlung.
In Zeiten von Neoliberalismus und dem Schwarz-Weiß-Denken des Populismus eine Wohltat: dass nicht einfache Botschaften zählen, sondern die Tiefe der Worte und die Offenheit der Routen. Also jeglich erdenkbare Art von Poesie.

Gemeinsam ist all diesen Texten, dass ihre politische Lyrik in Deutschland nicht wahrgenommen wird. Ein Kanon aus den Zentren Berlin, Frankfurt, München, Hamburg will österreichische Literatur, wenn sie überhaupt als solche verstanden wird, gern ins Nachsommer-Eck stellen oder einige Größen dem großen Deutschen zuführen. Der hiesigen Vormärz-Literatur wird abgesprochen, was man dem dortigen Jungen Deutschland alleinig zugute hält. Dass der offizielle Ort österreichischer Traditionsbetrachtung, das Literaturmuseum in Wien, gleich vorgeht und weder Beck, Hartmann, Meißner noch die politische Dimension von Lenau und auch die politische Dichtung seit 1945 keiner Betrachtung wert findet, ist ebenso erstaunlich wie skandalös.
Wenn die Lyrik jedoch das Soziale ganz außer acht ließe, würde sie Gefahr laufen, ein gehobenes Sprachbastelspiel zu betreiben. Es mag zwar erhaben aussehen, verweist jedoch eine inhaltliche Komponente auf den vermeintlich flachen Boden des Gesellschaftlichen. Bisweilen ist damit eine – unausgesprochene, weil selbstreferentielle – Kanonstrategie verbunden, die zur Plausibilität auch rückwirkend in die Vergangenheit interpretiert. Stellt man die Form haushoch über den Inhalt, landet man im Abstrakten.
Das Soziale aber ist nicht abstrakt. Den relativistischen Wahrheitsbegriff kann man nicht komplett von den gesellschaftspolitischen Folgen ablösen.

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Klaus Zeyringer, geb. 1953 in Graz, lebt in Pöllau (Stmk.) und München, war Univ.-Prof. für Germanistik in Frankreich und Literaturkritiker. Ist Kulturwissenschaftler und Publizist, moderiert in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Bücher u.a.: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650 (2012); Fußball. Eine Kulturgeschichte (2014, erw. Tb 2016); Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte (2 Bde. 2016, 2018); Das wunde Leder (2018); Schwarzbuch Sport (2021); Die Würze der Kürze. Eine kleine Geschichte der Presse anhand der Vermischten Meldungen (2022), die meisten im S. Fischer Verlag.

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Hier und Heute. 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur ist ein Kooperationsprojekt der IG Autorinnen Autoren mit der Stadt Wien und der Zeitschrift VOLLTEXT. 100 Wochen lang, jeden Freitag, bis zum 21. April 2023, erscheint eine neue literarische Erstveröffentlichung eines österreichischen Autors oder einer österreichischen Autorin. Initiiert wurde die Reihe 2021 von Claus Philipp, Gerhard Ruiss und Thomas Keul als Benefizaktion zur Bewältigung der Corona-Krise, seit Frühjahr 2022 wird sie als Beitrag der IG Autorinnen Autoren und der Stadt Wien in der Zeitschrift Volltext für den Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 fortgesetzt. Die komplette Reihe kann unter https://volltext.net/hier-und-heute/ abgerufen werden.