Von den Niederlanden unterworfen, von Japan in den Hunger getrieben: David Van Reybrouck erzählt die Kolonialgeschichte Indonesiens

Wenn Gewalt herrscht, Hungersnöte wüten und Millionen sterben, was bedeutet das dann für ein Menschenleben? Der belgische Historiker gibt der Geschichte ein konkretes Gesicht: In einem brillanten Buch lässt er Zeitzeugen aus allen Lagern über Niederländisch-Indien sprechen.

Claudia Mäder
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Indonesien sei ein stiller Riese, schreibt David Van Reybrouck und lässt die Bewohner des Landes sprechen. (Ostjava, 2021).

Indonesien sei ein stiller Riese, schreibt David Van Reybrouck und lässt die Bewohner des Landes sprechen. (Ostjava, 2021).

Robertus Pudyanto / Getty

Der vergangene Sommer hat verschiedene Rekorde gebrochen. Zum Beispiel dürfte im deutschsprachigen Raum seit Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen selten so viel über Indonesien berichtet worden sein wie in den letzten Monaten.

Gemeinhin ist das Land ein «stiller Riese», von dem man «selten bis niemals hört», wie der Historiker David Van Reybrouck 2020 schrieb. Doch mit der skandalträchtigen Documenta in Kassel ist der Inselstaat in die Schlagzeilen gekommen, schliesslich stammt das Künstlerkollektiv, das die Ausstellung kuratierte, aus Jakarta. Vor zwei Tagen ist die Documenta zu Ende gegangen. Und fast zeitgleich ist Van Reybroucks Buch über Indonesien auf Deutsch erschienen: Es bietet Gelegenheit, den «stillen Riesen» im Gespräch zu halten.

«Revolusi» heisst der jüngste Wurf des gefeierten und vielfach ausgezeichneten Belgiers, der Titel bezieht sich auf den indonesischen Freiheitskampf in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im August 1945 hat Indonesien als erste Kolonie nach dem Zweiten Weltkrieg seine Unabhängigkeit erklärt – aber erst 1949, nach einem viereinhalb Jahre dauernden, äusserst blutigen Ringen, haben die Niederlande dem Archipel die Souveränität zugestanden.

Über 300 Jahre lang hatten die südostasiatischen Inseln zuvor im Einflussbereich der europäischen Macht gelegen: Dieser langen Kolonialgeschichte widmet Van Reybrouck das erste Drittel seines Buches.

«Max Havelaar» klagt an

Um 1600 ist es der «Wunsch nach Geschmack», der die Niederländer nach Asien treibt. Sie wollen Gewürze importieren, und dies möglichst ohne kostspieligen Zwischenhandel: Die Ostindien-Kompanie, ein privates Unternehmen mit politischen Hoheitsrechten, etabliert Handelsposten auf einzelnen Inseln, vorläufig noch, ohne Gebiete zu besetzen. Im frühen 19. Jahrhundert wandelt sich das kommerzielle Projekt zum politischen Unterfangen. In Indonesien wird immer mehr Land unterworfen, die Einheimischen müssen Kaffee, Tee und Tabak anbauen, später wird Zinnerz, Kautschuk, Erdöl gefördert.

Die dabei angewandte Brutalität sorgt selbst daheim für Protest – 1860 prangert ein ehemaliger Kolonialbeamter die Zustände im Roman «Max Havelaar» an –, doch auf die Abschaffung der Sklaverei folgen weitere Eroberungskriege, erst 1914 ist Niederländisch-Indien, das heutige Indonesien, komplett.

Für das Freiheitsbewusstsein, das sich zu dieser Zeit in manchen Untertanen regt, haben die Niederländer kein Verständnis. Als 1927 eine erste indonesische Massenpartei entsteht, greift die Obrigkeit ein, löst die Bewegung auf und inhaftiert ihren Anführer, den späteren Präsidenten Sukarno. Die Verhältnisse bleiben damit so, wie sie eine niederländische Zeitung 1915 beschrieb: «Unserer Ansicht nach ist der Javaner ein Kind: frech, launisch, lästig und faul, unverlässlich und roh. (. . .) Nicht der Untergebene hat Ermahnungen zu verteilen, sondern der Herr. Wir sind der Herr.»

Sukarno (1901-1970), der Präsident Indonesiens, hat im August 1945 die Unabhängigkeit des Inselstaats erklärt.

Sukarno (1901-1970), der Präsident Indonesiens, hat im August 1945 die Unabhängigkeit des Inselstaats erklärt. 

Everett Collection / Imago
Niederländer speisen in einem Restaurant in Java, um 1940.

Niederländer speisen in einem Restaurant in Java, um 1940.  

Hulton Archives / Getty

Ab 1945 kämpft die indonesische Republik unter der Führung Sukarnos (links) gegen die niederländische Kolonialherrschaft an.

Recherchen auf Tinder

Wenig später werden die Herren indessen selber zu Untergebenen: 1940 besetzt NS-Deutschland die Niederlande, in Indonesien übernimmt 1942 Japan die Herrschaft. Von dieser Zeit handelt der zweite Teil des Buches. Europäer werden systematisch interniert, die autochthone Bevölkerung wird streng kontrolliert, militärisch gedrillt und zu Zwangsarbeit verpflichtet. 1944 führt die japanische Ausbeutungspolitik zu einer schrecklichen Hungersnot, allein auf Java sterben 2,4 Millionen Menschen, fünf Prozent der Bevölkerung.

Die Zahlen sind enorm, die Begriffe machen betroffen, aber kann man sich wirklich vorstellen, was sie für die Menschen bedeuteten? Wenn einer es schafft, der Geschichte ein konkretes Gesicht zu geben, dann ist es David Van Reybrouck. Der Historiker arbeitet mit Oral History. Schon in seine grosse Studie über Kongo, das Buch, das ihn 2010 bekannt machte, hat er Aussagen von Zeitzeugen eingewoben und Rebellenführer, Soldaten oder einfache Leute erzählen lassen. Genauso geht Van Reybrouck nun im Indonesien-Buch vor.

In jahrelangen Recherchen hat er Menschen aus allen Lagern aufgespürt, die über Kolonialzeit und Unabhängigkeitsbewegung Auskunft geben können. Keinen Kanal liess der Forscher aus. Selbst Tinder hat er genutzt, um Kontakte herzustellen, junge Leute nach ihren Grosseltern zu fragen und letztlich in niederländischen Altersheimen, japanischen Wohnzimmern und indonesischen Dörfern Hunderte von Gesprächen zu führen.

Tun, was Deutschland tat?

Wer sich an die damalige Zeit erinnert, ist heute zwischen 90 und 100 Jahre alt, oft gibt es Lücken im Gedächtnis, aber manche Ereignisse haben sich eingebrannt in die Köpfe. In allen Details beschreibt etwa ein Indonesier, wie er 1942 als 15-Jähriger der Exekution zweier Niederländer beiwohnen musste. Ein Japaner nahm Anlauf und rammte sein Bajonett in die Bäuche der Feinde. «Die Eingeweide quollen raus.»

Viele Einheimische erzählen, wie sie den grossen Hunger überlebten, Bananenschalen oder Papayablätter assen und Hunde mit dem Buschmesser töteten. Ein japanischer Soldat wiederum weiss noch, dass ihn die Indonesier 1942 freundlich begrüssten, da sie in den Japanern zunächst ihre Befreier sahen: «Die Bewohner der Gegend kamen lächelnd zu uns und gaben uns Essen! Bananen, Kokosnüsse, Papayas! So freundliche Menschen!»

Den Oral-History-Zugang pflegt Van Reybrouck auch im letzten Drittel des Buches, das von der eigentlichen «Revolusi» berichtet. Als Japan im Sommer 1945 kapituliert, nutzen die indonesischen Freiheitskämpfer die Gelegenheit, um die Unabhängigkeit ihres Landes auszurufen. In Amsterdam aber zählt diese Erklärung nichts, man geht dort selbstverständlich davon aus, dass Niederländisch-Indien nach dem kriegsbedingten Unterbruch wieder zur Krone gehören wird. Auf den Inseln bricht sich daraufhin Unmut Bahn, besonders Jugendliche greifen zu Gewalt und ermorden wahllos Europäer.

Vertreter dieser Generation, die mit Bambusspeeren Schrecken verbreitete, kommen bei Van Reybrouck genauso zu Wort wie niederländische Soldaten, die rekrutiert wurden, um die Kolonie zurückzugewinnen. Manche von ihnen konnten nicht fassen, dass der Krieg, kaum war er daheim vorüber, am anderen Ende der Welt aufs Neue beginnen sollte: «Wir waren gerade erst von der Unterdrückung durch die Deutschen befreit worden, und nun wollten wir in Indonesien das Gleiche tun, was Deutschland getan hatte, das Land besetzen. Es war zu verrückt, um wahr zu sein.»

Blutige «Polizeiaktionen»

Bis 1949 lösen sich diplomatische Bemühungen und kriegerische Auseinandersetzungen ab. Zweimal führen die Niederlande in Indonesien eine «Polizeiaktion» durch, hinter dem Euphemismus verbergen sich ausgewachsene Militäroperationen, die zu monatelangen Guerillakämpfen und zahllosen Kriegsverbrechen führen. Insgesamt werden in jenen Jahren 97 000 Indonesier getötet, die Niederländer verlieren rund 5000 Mann.

Niederländische Truppen auf einer beschädigten Strasse nach einem Militäreinsatz, Anfang 1949.

Niederländische Truppen auf einer beschädigten Strasse nach einem Militäreinsatz, Anfang 1949.

United Archives / Imago

Dass das Schlachten 1949 ein Ende nimmt, hat nicht zuletzt mit der internationalen Lage zu tun: Die neu entstandene Uno setzt das Indonesienproblem auf die Traktandenliste, und 1949 schlagen sich die Amerikaner auf die Seite der indonesischen Republik – von deren gemässigter Führung sie sich Unterstützung im Kampf gegen den Kommunismus in Südostasien versprechen. Angesichts des äusseren Drucks bleibt den Kolonialherren letztlich nichts anderes übrig, als Indonesiens volle Souveränität anzuerkennen.

All das erzählt David Van Reybrouck in brillanter Manier. Man liest sein Buch gebannt, neben den Augenzeugenberichten macht auch das Schreibtalent des Autors die Lektüre zum Erlebnis. Gewiss könnte man monieren, dass der Historiker wenig grundlegend neue Fakten liefert, zur indonesischen Kolonialgeschichte gibt es durchaus schon Forschung. Aber so eindringlich und zugänglich sind die komplizierten Vorgänge für ein breiteres Publikum mit Sicherheit noch nie beschrieben worden.

Die moderne Welt verstehen

Allerdings hat gerade der starke Erzählduktus auch seine Tücken. Van Reybrouck ist nämlich darauf bedacht, seinem Stoff eine einzigartige Bedeutsamkeit zuzuschreiben. Anstatt die Dekolonisierung Indonesiens nur darzustellen, interpretiert er sie als Schlüsselelement einer grösseren, ja der ganz grossen Geschichte – sie hat, wie der Untertitel besagt, zur «Entstehung der modernen Welt» geführt.

Indonesien hätte demnach als «erster Dominostein» einen Dekolonisierungsschub ausgelöst und damit etliche neue Entwicklungen rund um den Globus geprägt. Die europäische Einigung beispielsweise ist gemäss dem Autor weniger als Friedensprojekt denn als «energische Reaktion» auf den «Antiimperialismus des Südens» zu verstehen, der wiederum in Indonesien seinen stärksten Ausdruck fand. Denn dort, in Bandung, ist 1955 erstmals eine asiatisch-afrikanische Konferenz abgehalten worden, ein politisches Treffen ohne Teilnehmer des Westens.

Selbst wenn man bereit ist, viele internationale Entwicklungen auf die Befreiung des globalen Südens zurückzuführen, ist es schon aus chronologischen Gründen seltsam, eine Sonderstellung Indonesiens zu behaupten. Manche Länder sind kurz vor dem Inselstaat unabhängig geworden, Indien oder Burma etwa, andere wenig später, Laos und Kambodscha zum Beispiel, es folgten bald auch Tunesien und Marokko. An all diesen Orten hat der Zweite Weltkrieg als Katalysator für die Unabhängigkeit gewirkt und antikoloniale Kräfte gestärkt.

Natürlich hat jede Kolonisierung und jede Dekolonisierung ihre ganz eigene Geschichte: Jedes Land verdiente ein Buch, wie Van Reybrouck es über Indonesien schrieb. Aber um die Entstehung der modernen Welt zu ergründen, scheint es wenig sinnvoll, einen einzelnen Ort hervorzuheben. Wesentlich interessanter wäre es da, die Verbindungen zwischen Dekolonisation und Weltkrieg zu vertiefen. Nicht etwa, um Ereignisse gleichzusetzen oder eine Opferkonkurrenz zu starten, sondern um Zusammenhänge zwischen historischen Prozessen zu erkennen.

David Van Reybrouck: Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022. 752 S., Fr. 49.90.