Efeu - Die Kulturrundschau

Kontaktbasis für Publikum

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29.09.2022. Der Tagesspiegel schwelgt in der Almancı-Popkultur, der Cem Kaya mit seiner Doku "Liebe, D-Mark und Tod" ein Denkmal gesetzt hat. Eher übergriffig als hollywoodkritisch finden die Filmkritiker Andrew Dominiks Marilyn-Monroe-Film "Blond". Der Tagesspiegel lässt sich von der brausenden Natur in den Bildern des amerikanischen Malers Winslow Homer überwältigen. Theoretisch interessant findet der Standard das neue Album von Björk.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.09.2022 finden Sie hier

Film

Der Almancı-Popkultur eine Bühne: "Liebe, D-Mark und Tod" (Rapid Eye Movies)

Völlig umgehauen (und das im übrigen sehr zu Recht) wurde Matthias Dell im Tagesspiegel von Cem Kayas so mitreißendem wie erhellendem Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod" über die Geschichte der populären Musik der türkischen Gastarbeiter in der alten Bundesrepublik: "Es ist fulminant, wie mühelos es Kaya gelingt, die erzählerischen Fliehkräfte seines überbordenden Materials in 90 Minuten zu beherrschen. Der Film ist eine Wucht, aber er schwitzt nicht. Mit jedem Interview - mit Yüksel Özkasap, der 'Nachtigall von Köln', oder Cavidan Ünal, der 'Diva von Europa' - ließe sich eine ganze Episode einer zehnteiligen Doku-Serie bestreiten." Der Film "will nicht bloß dem weißen Deutschland gesellschaftliche Zusammenhänge aufzeigen", sondern bietet "auch die glamouröse Bühne, auf der die Almancı-Popkultur sich selbst begreifen kann: als eine Geschichte, die bisher nicht geschrieben und tradierbar war." Auch Ralf Krämer vom Freitag staunt: Hier geht es um Stars, "die in der BRD mit Goldenen Schallplatten ausgezeichnet wurden und in den größten Hallen Konzerte gaben", aber die weder damals noch heute kaum jemand aus der Mehrheitsgesellschaft kennt.

Ohne Schutzraum: Ana de Armas spielt Norma Jeane Baker, die Marilyn Monroe war (Netflix)

Andrew
Dominik hat für Netflix Joyce Carol Oates' Roman "Blond" über das Leben von Norma Jean Baker verfilmt, die den meisten am ehesten als Marilyn Monroe bekannt ist. Mit Glamour ist nicht zu rechnen: "Die Geschichte ist ein Schauerstück über eine junge Frau, die in den Fünfzigern in die Maschinerie des Hollywoodsystems gerät und in eine fürchterliche Einsamkeit rutscht", schreibt Tobias Kniebe in der SZ, dem der Film mitunter allerdings zu sehr ins "tragische Pathos" abgleitet. Der Film macht sich mit Hollywoods Schaulust ein bisschen zu sehr gemein, findet auch Anke Leweke auf ZeitOnline, er werde über die Laufzeit "zunehmend übergriffig. ... Zugunsten eines provokanten Schauwertes nimmt der Film seiner Figur schließlich auch noch das letzte posthume Recht auf Selbstbestimmung. Im Kontext von Marilyns Schwangerschaften und Abtreibungen begibt sich die Kamera gleich mehrmals in den Uterus der jungen Frau und zeigt leinwandfüllend einen Embryo." Es fehlt "ein visueller und erzählerischer Frei- oder Schutzraum für die Frau, die allen zu gehören schien und sich dadurch selbst abhandengekommen ist". "Im Kern erzählt der Film von der Erschaffung und dem Verschwinden weiblicher Subjektivität", hält Dominik Kamalzadeh im Standard fest.

Außerdem: Eine pseudonym schreibende russische Autorin erklärt auf ZeitOnline, wie es russischen Kinos gelingt, US-Blockbuster zu zeigen, obwohl Hollywood seine Filme derzeit gar nicht nach Russland importiert. Hanns-Georg Rodek ulkt in der Welt mit Michael "Bully" Herbig darüber, über welche Bevölkerungsgruppen man heute noch problemlos Witze machen könnte - auf "Feuilletonisten" einigen sich beide rasch.

Besprochen werden Michael "Bully" Herbigs Relotius-Verfilmung "Tausend Zeilen" (taz, FR, Freitag, mehr dazu hier), Rosa von Praunheims semidokumentarischer Film "Rex Gildo - der letzte Tanz" (SZ, FR), Danny Boyles für Disney+ umgesetzte Sex-Pistols-Serie "Pistol" (ZeitOnline, SZ), Payal Kapadias auf Mubi gezeigter Film "A Night of Knowing Nothing" (Tsp), Edward Bergers Neu-Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman "Im Westen nichts Neues" (Welt, Zeit, mehr dazu bereits hier), Ivan Calbéracs "Weinprobe für Anfänger" (SZ), Natalia Sinelnikovas Debütfilm "Wir könnten genauso gut tot sein" (taz), die Netflix-Serie "Die Kaiserin" über Sisi (FAZ), die MDR-Krimiserie "Lauchhammer" (Welt) und Carolin Schmitz' "Mutter" mit Anke Engelke (SZ). Außerdem informiert uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Kunst

Winslow Homer, The Gulf Stream, 1899, © Metropolitan Museum of Art, New York


Bernhard Schulz besucht für den Tagesspiegel in der Londoner National Gallery eine Ausstellung des amerikanischen Malers Winslow Homer (1836-1910) und entdeckt einen Künstler "zwischen Realismus und Naturalismus, darin seinem älteren Zeitgenossen Adolph Menzel ähnlich". Homer wurde berühmt mit Bildern aus dem amerikanischen Bürgerkrieg bevor er nach Maine zog, wo er sein Lebensthema fand: die "Gewalten der Natur, vorzugsweise des Meeres. Schiffsuntergänge waren damals an der Tagesordnung, Fischer beständig in Lebensgefahr. Homer malte die Frauen und Mädchen des Ortes als starke, den Stürmen trotzende Personen, aufrecht am Strand, im Arm einen Korb, den Fang der anrudernden Männer aufzunehmen. Schiffbrüchige wurden mit neuartigem Gerät gerettet, Ertrinkende von starken Schwimmern geborgen. ... Es entstehen Bilder, in denen ein Einzelner klein vor den gewaltigen Elementen steht, und immer häufiger solche, in denen gar kein Mensch mehr vorkommt."

Katharina Cichosch unterhält sich für monopol mit der afghanischen Künstlerin Sara Nabil, die sich ärgert, wenn Westler glauben, Afghaninnen seien "qua Naturgesetz" nicht gleichberechtigt: "'Das finde ich arrogant. Wir haben erst mit unseren Familien für unsere Rechte gekämpft, dann auf gesellschaftlichen und politischen Ebenen. Es gibt eine ganze Generation, die in dieser Freiheit aufgewachsen ist. Sie glaubt an die Menschenrechte. Sie glaubt nicht, dass diese Rechte ein importierter Wert sind. Ein Menschenrecht ist ein Menschenrecht.' Nabil selbst ist in einer liberalen Familie groß geworden. Ihre Erfahrungen im eigenen Zuhause weckten in ihr den Wunsch, sich für andere Frauen zu engagieren. 'Für mich sind Menschenrechte und Freiheit immer noch universelle Werte. Nichts, das der Westen für sich allein beanspruchen kann,' sagt Nabil. Das, sagt die Künstlerin, sei 'kulturelle Bevormundung'."

Claas Oberstadt macht für die Zeit eine Rundreise durch die Heimatmuseen der Republik und stellt fest: Es "sind die kleinen und kleinsten Sammlungen, in denen sich besonders deutlich zeigt, was den Deutschen wichtig ist, welche Teile ihrer Vergangenheit sie bewahren wollen. Es gibt hierzulande Tausende Heimatmuseen, sie sind das heimliche Gedächtnis der Gegenwart. Höchste Zeit, sie einmal zu besuchen."

Weiteres: Brigitte Werneburg besucht für monopol die Kunststadt Vilnius, die sich auf ihren 700. Geburtstag vorbereitet. Elke Buhrunterhält sich für monopol mit der chinesischen Künstlerin Cao Yu, die gerade in der Ausstellung "Empowerment" im Wolfsburger Kunstmuseum zu sehen ist, über ihre Arbeit und Konzepte des Feminismus. Besprochen wird außerdem die Schau "Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst" im Frankfurter Städel (FAZ).
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Literatur

In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Der Soziologe Hans Joas erzählt in der SZ, was er derzeit liest - nämlich "Das gelobte Land" von Henrik Pontoppidan.

Besprochen werden unter anderem Irene Solàs "Singe ich, tanzen die Berge" (SZ), Ian McEwans "Lektionen" (NZZ), Karin Slaughters Thriller "Die Vergessene" (TA), Friedrich von Borries' und Jens-Uwe Fischers Biografie über den DDR-Designer Franz Ehrlich (Tsp) sowie Johannes Vilhelm Jensens "Neue Himmerlandsgeschichten" (FAZ).
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Stichwörter: Gerasimow, Sergei, Charkiw

Bühne

In der nachtkritik plädiert Aljoscha Begrich vom Festivals "Osten", das Programm des "Bitterfelder Wegs" zu reaktivieren. Damit wollten die SED-Parteifunktionäre 1959 "die unsichtbare Grenze" zwischen Intellektuellen und Arbeitern aufheben. Diese Idee wurde schnell wieder fallen gelassen, zu unvorhersehbar waren die Ergebnisse. Aber warum heute - ohne den ideologischen Überbau - nicht noch mal probieren, wie es das Festival Osten in Bitterfeld tut? Hier ein Beispiel: "Den aus New York stammenden Komponisten und Musiker Ari Benjamin Meyers beispielsweise inspirierte der Ansatz des Bitterfelder Weges und die Frage 'Wer lernt von wem?' zu der Idee, dass junge Musikschüler:innen älteren Menschen ein Musikinstrument beibringen könnten, um dann gemeinsam ein Werkorchester zu gründen. Über ein Jahr lang trafen unterschiedliche Menschen und Erfahrungen aufeinander, erlernten neue Abhängigkeiten und Techniken, hörten zu - und wuchsen gemeinsam. Aus den musikalischen und sozialen Ergebnissen schuf Meyers eine Inszenierung, die auf dem Festival aufgeführt wurde. Diese Mischung aus Uraufführung neuer Musik und Mitmachtheater schuf eine Kontaktbasis für Publikum, die sich ins Festival verlängerte."

Außerdem: Heute vor hundert Jahren wurde an den Münchner Kammerspielen mit "Trommeln in der Nacht" das erste Stück von Bertolt Brecht uraufgeführt - daran erinnern Steffen Damm im Tagesspiegel und Jürgen Kaube in der FAZ.
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Musik

Das letzte Album von Björk ist auch schon wieder fünf Jahre her - jetzt meldet sich die isländische Kunst-Pop-Künstlerin mit "Fossora" zurück, einem Konzeptalbum über Pilze und zwar "umgesetzt von einem Bassklarinetten-Sextett und Technoknartsch - endlich nimmt sich dieser Herausforderung jemand an, das Warten hat ein Ende", ulkt Karl Fluch im Standard. Die Sängerin "entwindet sich ihre Texte, diese stets kunstvoll zwischen die Sessel gesetzten Lyrics, verdreht betont, die Balance zwischen Charme und Zumutung testend. 'Fossora' ist ein anstrengendes Werk. Niemand wird je ein Stück davon fröhlich auf den Lippen haben, wenn er in der Früh zum Bäcker geht." So ist das Album "einerseits grauenhaft, andererseits als Lebenszeichen einer Ausnahmeerscheinung betrachtenswert. So wie das Spätwerk des Scott Walker - also eher theoretisch interessant als ein praktischer Hörgenuss." Große Storys über Björk bringen Pitchfork und der Atlantic.



"Zwei Stunden lang dröhnt und braust es": Am vergangenen Sonntag bot sich in der Berliner Philharmonie die Möglichkeit, die wuchtige Musik der 1944 gestorbenen Komponistin Ethel Smyth kennenzulernen, berichtet Anna Schors in der taz. Das Deutsche Symphonie-Orchester spielte unter Robin Ticciati konzertant die Oper "The Wreckers". Mit viel Ehrgeiz machte Smyth sich daran, ihre Berufung umzusetzen, erfahren wir: Mit einem Hungerstreik zwang sie die Eltern dazu, ihr ein Studium zu ermöglichen, "mit Herrenkrawatte und grünem Jägerhut" ging sie auf der Suche nach Anschluss auf Abendgesellschaften. Sie "wollte als englische Nationalkomponistin in die Geschichte eingehen und wählte deshalb die Küste Cornwalls als Schauplatz für 'The Wreckers'. Nebenbei streute sie ein paar Melodien bekannter altenglischer Volkslieder ein. So wollte sie sich in die Herzen der Menschen und vor allem auf die ganz großen Bühnen des Königreichs komponieren. Ihr musikalischer Stil bedient sich großzügig aus dem Werkzeugkasten der Spätromantik und schafft mit Wagner'schen Leitmotiven, farbenreicher Orchestrierung und experimentellen Harmonien kühne Klänge von wilder Schönheit." Das 19-seitige Programmheft zur Aufführung kann man auf der Website des Orchesters runterladen.

Außerdem: In der taz spricht der brasilianische Rapper Emicida unter anderem über die Lage in seinem Heimatland, an dem sich am Sonntag entscheiden wird, ob der rechtsextreme Bolsonaro weiter regieren wird. Reinhard J. Brembeck porträtiert in der SZ den Sopranisten Bruno de Sá, der in den großen Frauenrollen der Oper reüssieren will. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Geiger Jean-Luc Ponty zum achtzigsten Geburtstag. Und: Der Rapper Coolio ist gestorben, melden die Agenturen. Unvergessen ist dieser Song:



Besprochen werden die Autobiografie des Jazzers Klaus Doldinger (NZZ), ein Konzert der Lautten Compagney (Tsp) und das neue, schlicht nach der Band selbst benannte Album von Wanda, deren Keyboarder vor wenigen Tagen gestorben ist (unter Umständen "das perfekt richtige Album für die falsche Zeit", findet SZ-Kritiker Jakob Biazza).

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