Im vergangenen Jahr ist ein Film erschienen, den die französische Autorin Annie Ernaux gemeinsam mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot gemacht hat. Er gibt Einblick in die Super-8-Filme, die Familie Ernaux bis zu Beginn der Achtzigerjahre aufnahm, dem Zeitpunkt, an dem sich Ernaux und ihr Ehemann trennten. Ernaux, die 1940 geboren wurde und im Arbeitermilieu der normannischen Stadt Yvetot aufwuchs, hatte sich durch ihr Studium und ihre Arbeit als Lehrerin schon seit den Sechzigerjahren immer weiter von ihrer Herkunft und der ihrer Eltern entfernt.

Als sie und ihr Mann die Super-8-Kamera kauften, lasen sie den Nouvel Obsérvateur, verstanden sich als linke Kulturbürger und wollten ihren beiden Söhnen eine Weltläufigkeit vermitteln, die ihnen selbst bis zum Alter von 30 Jahren verschlossen geblieben war. Dazu gehörte auch die Teilnahme an einer vom Nouvel Obs im Frühjahr 1972 organisierten Bildungsreise nach Chile, bei der die frisch angeschaffte Kamera laufend zum Einsatz kam, um die Effekte von Salvador Allendes Sozialpolitik zu dokumentieren. Während in dem Film Bilder dieser Reise gezeigt werden, spricht im Off Eva Mattes Ernauxs Text (in der Übersetzung von Jutta Liesen) dazu: "Ich spürte, dass diese Reise (...) ein Wendepunkt in meinem Leben war und mich dazu verpflichtete, ein Versprechen einzulösen, das ich mir mit 20 Jahren selbst gegeben hatte: Ich würde schreiben, um meine Klasse zu rächen." 

Für Ernauxs Verhältnisse ist das ein mit reichlich Pathos aufgeladener Satz an der Grenze zum Klischee: Wendepunkte, soziale Verpflichtung, Rache, Klasse – heftig. Aber es ist so, so war es wirklich. Im Jahr 1974 erschien in Frankreich Ernauxs erster Roman Les Armoires vides bei Gallimard, zehn Jahre später erhielt sie ihren ersten größeren Preis für La Place (auf Deutsch erstmals 1986 als Das bessere Leben erschienen und neu übersetzt als Der Platz 2019 publiziert). Geschrieben wurden die meisten ihrer Bücher neben Ernauxs Arbeit als Lehrerin und der Erziehung ihrer Söhne, Sorge um ihre Eltern und später ihrer eigenen Krebserkrankung.

Seit 1974 hat Ernaux 21 weitere autobiografisch grundierte Bücher geschrieben, die man je nach Bedarf als Roman bezeichnen kann, dazu kommen etliche weitere Bände mit Interviews, politischen Stellungnahmen, poetologischen und historischen Reflexionen. Sie alle widmen sich dem Kampf darum, jenes große Versprechen der 20-jährigen Ernaux halten zu können und zu müssen. Versprechen dieser Art löst man unter anderem nur ein, um vor sich selbst nicht das Gesicht zu verlieren. Wobei das eigentlich egal wäre, denn damit muss man dann eben leben. Versprechen dieser Art löst man vor allem ein, um auf dem Feld der Literatur an einem Projekt mitzuarbeiten, das den nicht gerade kleinen Titel Gerechtigkeit trägt. Es ist auch deshalb eine wunderbare Nachricht, dass Annie Ernaux den Literaturnobelpreis des Jahres 2022 erhält.

Falls nun jemand anheben möchte, sich Sorgen darüber zu machen, dass das Komitee zur Vergabe des Literaturnobelpreises ästhetische Ansprüche in den Wind geschossen habe: Ganz ruhig. Ernaux erhält den Preis nicht für persönliche Tugendhaftigkeit oder die richtigen politischen Überzeugungen, sondern laut Mitteilung des Komitees für die "klinische Präzision", mit der sie an der Erforschung des Zusammenhangs von sozialen Zwängen und persönlicher Erinnerung arbeitet. Dies geschieht zwar in einem von jedem Schnörkel und aller Sentimentalität befreiten Rhetorik. Diese Strenge mit mangelndem Formbewusstsein oder theoretischem Anspruch zu verwechseln, wäre allerdings seinerseits etwas schlicht.

Der Roman Die Jahre machte in Sonja Fincks Übersetzung Ernaux 2017 auch einem größeren deutschen Publikum bekannt. Er bearbeitet nicht nur die Frage, anhand welcher Fotografien, sprachlicher Klischees und Sprichwörter, Gegenstände und Erinnerungsfetzen sich ein Leben überhaupt als individuell erzählen lässt, da ja so viele andere Menschen von genau der gleichen vorgefertigten Dingwelt umgeben sind. Er stellt vor allem die Frage danach, wie ein spezifisch weibliches Schreiben funktioniert, das, wie bei Ernaux selbst, permanent einem Leben abgerungen werden muss, das durch die Sorge- und Lohnarbeit für andere vollkommen fremdbestimmt ist. Wie schreibt man "ein Buch, das das Vergehen der Zeit in ihrem Innern und außerhalb von ihr, in der großen Geschichte, beschreibt, einen 'totalen Roman'", fragt Ernaux.

Marcel Proust begegnete der gleichen Frage in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durch einen hyperverbalen Anfall, der in einem mehrere Tausend Seiten langen Werk jede Gefühlsregung seines Alter Egos Marcel genauestens ausleuchtet. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bestand die Sensation dieses Vorgehens unter anderem in der unapologetischen Intensität, mit der sich hier ein Subjekt mit sich selbst beschäftigte. Dass es sich dabei vor allem um einen Effekt von eben nicht durch Sorge- oder Lohnarbeit behinderter Tagesfreizeit handelt, genießt Prousts Erzähler ausführlich, während er von sich als Ausnahmemensch berichtet. Das ist wundervoll und die sogenannte große Literatur. Würde man sich diese als eine Farbe vorstellen, zum Beispiel: blau, so ist sehr leicht, einzusehen, dass sie eben auch ein Komplement hat – und in mancher Hinsicht sogar braucht, um für sich stehen zu können.