Der Filmemacher und Autor Alexander Kluge, der in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden ist, kennt den Dichter, Essayisten, Journalisten, öffentlichen Intellektuellen Hans Magnus Enzensberger sehr gut, der am Freitag im Alter von 93 Jahren gestorben ist. Kurz nach der Meldung von Enzensbergers Tod senden wir Kluge eine Mail mit der Frage, ob er etwas über Enzensberger schreiben oder sagen könnte. Er meldet sich rasch zurück. Das Gespräch findet am späten Freitagnachmittag auf Zoom statt. Kluge spricht über Enzensberger weitgehend im Präsens.

ZEIT ONLINE: Lieber Herr Kluge, Sie sind ein Weggefährte von Hans Magnus Enzensberger und nach allem, was man weiß, waren Sie beide gute Freunde. Als wen oder was betrachten Sie Enzensberger vor allem?

Alexander Kluge: Ich habe vor allen Dingen mit ihm zusammengearbeitet. Über Jahrzehnte hinweg, durchaus auch aus der Entfernung. Und er ist ja sozusagen der Ältere unter uns Brüdern, er ist 1929 geboren, ich bin 1932 geboren. Wir haben im Wesentlichen dieselben Zeiten durchlebt.

ZEIT ONLINE: Wie würden Sie Ihr Verhältnis beschreiben? In der Zusammenarbeit, in der persönlichen Begegnung?

Kluge: Distanzierter, als Sie offenbar denken. Wir duzen uns nicht. Ich glaube, erst vor zwei Jahren haben wir damit angefangen, mal "du" zu sagen. Da ist gegenseitiger Respekt, eine Klarheit darüber, dass wir doch im Metier etwas verschieden arbeiten, aber wir die Kooperation mit dem je anderen belebend finden. Diese Art von Kooperation geht nicht über übertriebene Nähe.

ZEIT ONLINE: Sondern?

Kluge: Über das Teilen einer Erfahrung. Die Erfahrungsebene erzeugt Verwandtschaften, mag die Bearbeitung der Erfahrung dann manchmal auch verschieden sein. Ein bisschen ist Enzensberger auch ein Lehrmeister. Wenn ich Dinge zu schnell fallenlasse, liest er mir die Leviten. Man kriegt auch den Vorwurf der Faulheit sehr schnell bei ihm oder den der Trägheit. Er kann streng werden.

ZEIT ONLINE: Als welchen Menschen haben Sie Enzensberger grundsätzlich erlebt?

Kluge: Er ist ein sehr lebhafter, beweglicher Geist. Im Jahr 2000 habe ich ihn in einem Film porträtiert, der Film heißt Ich bin der Saboteur meiner Depressionen. Daraus spricht bereits seine Gedankenrichtung. Dabei ist er immer rebellisch. Wenn Sie von ihm erwarten, dass er auf eine Frage von Ihnen antwortet, wird er Ihnen wahrscheinlich eine andere Frage beantworten. Er ist immer in Bewegung und immer überraschend. Er ist jemand, der Leben um sich verbreitet. Und er ist ein Gründer, er hat das Kursbuch gegründet und die Andere Bibliothek. Und er ist auch niemand, der sich wichtig macht oder nur selber Autor ist. Er hat gedankliche und poetische Städte errichtet, da ist er sehr urban. Enzensberger ist eben ein Mensch genau unseres Jahrhunderts, gerade des 21., sogar noch mehr als des 20. Jahrhunderts. Und dennoch hat er Wurzeln im 18. Jahrhundert. Er ist ein heller Geist der Enzyklopädie.

ZEIT ONLINE: Wie würden Sie dann in Ihrer Beschreibung die Verteilung des 18., des 20. und des 21. Jahrhunderts bei ihm fassen?

Kluge: Da gleicht er einem Güterzug, bei dem die Waggons durcheinandergeraten sind und an verschiedenen Gleisen stehen – man muss diesen Zug erst einmal wieder in der Reihenfolge zusammensetzen. Er besitzt die Initiative der Gebrüder Grimm oder von anderen wahren Aufklärern, die in der Romantik die Gründlichkeit fordern. Die sagen: Geredet wurde genug im 18. Jahrhundert, wir wollen das Gequassel nicht, wir wollen jetzt wirklich anfangen zu arbeiten und Bergwerke bauen. Ich würde eine Schicht bei Enzensberger durchaus mit dem Dichter Novalis vergleichen, der ja tatsächlich in einer Bergwerksdirektion gearbeitet hat. Novalis verband Wissenschaft mit der blauen Blume, mit romantischer Poetik. Und so etwas Ähnliches macht Enzensberger tagein, tagaus. Er arbeitet gleichsam in mehreren Stockwerken parallel. Das ist etwas, was mich an ihm fesselt.

ZEIT ONLINE: Was war an ihm, das ihn aus Ihrer Sicht gerade zum Menschen unseres Jahrhunderts macht, des 21.?

Kluge: Enzensberger dachte schon früh über ein imaginäres Radio nach, das wir eigentlich bräuchten. Gemeint ist nicht der Rundfunk, den man sich vorstellt, der einen Intendanten hat und Gremien und Redakteure. Enzensberger hat stattdessen gefordert, dass jeder Mensch ein Sender und ein Empfänger sein solle. Die Partizipation, die man im Netz zu Anfang hatte, die kam dem sehr nahe. Bis das Netz sich von den Big Five des Silicon Valleys selbst kastrieren ließ. Enzensberger würde sagen: Die Algorithmen sind großartig für die Partizipation, aber es liegt ein Elend darin, wie viel sie auslassen und wie viele sie ausschließen. Enzensberger stünde jetzt auf der Seite der schärfsten Kritiker des Silicon Valleys, nachdem es zuvor dasjenige ermöglicht hat, was er gefordert hat. Und was er auch selbst praktiziert, denn was er tut, ist ständig vernetzen. Bei allem, was ihn jeweils aktuell beschäftigt, ist er zugleich sehr in der Zukunft tätig. Er hat großes Ahnungsvermögen. Auch das macht ihn attraktiv für die Zusammenarbeit.