Die Pest

 

Mit einem Schlage brach die Pest aus. Keiner wußte, woher sie gekommen war, keiner wußte, in welchem Hause sie ausgebrochen war.

Die Europäer merkten es zuerst daran, daß die roten chinesischen Totenlampen in einer Nacht viel zahlreicher als sonst vor den kleinen Schuppen brannten, die die Himmelsstraße umrahmten, die wie eine breite weiße helle Straße durch das Gewirr zahlloser dunkler Gassen der Eingeborenenstadt Charbin hindurchlief.

Einem russischen Oberst passierte es, daß der Kutscher seiner Troika plötzlich im Fahren hintenüberfiel, in den Schlitten hinein, gerade auf den dicken Bauch des Obersten. Und als der Oberst seine Knute nehmen wollte, um den betrunkenen Kutscher zur Vernunft zu bringen, sah er in ein paar glasige Augen, die der Schrecken des Todes weit aufgerissen hatte. Und ein schrecklicher Atem des Todes quoll ihm aus dem weit offenstehenden Munde entgegen. Der Kutscher röchelte noch einige mal schwer im Stroh des Schlittens, dann richtete er sich mit einer letzten Anstrengung halb auf, schluckte ein paarmal, und dann spie er auf den grauen Pelz des Obersten eine schwarze, dicke Blutwolke, einen großen, breiten giftigen Brodem, seine ganze Lunge entleerte sich in dieser schwarzen Masse. Und er fiel in das blutige Stroh des Schlittens zurück.

Das Blut gefror sofort auf den Handschuhen, und dem dicken Pelz des Obersten.

Der Oberst war in das Kasino seines Regiments gekommen, außer sich, er hatte alle Leute von sich gejagt, er schrie wie ein Wahnsinniger in einem fort. Die Ekstase des Schreckens hatte ihn übermannt. Nach einer halben Stunde war er quer über den Eßtisch hingeschlagen, er hatte im Fallen das ganze Tischtuch mit sich gerissen, und das Blut, das ihm aus der Lunge ausbrach, vermischte sich mit den Speisen, die lustig in dieser warmen Brühe umherschwammen.

Als die Offiziere ihn hinfallen sahen, wichen sie alle zurück, keiner rührte ihn an, einer drängte den andern heraus. Draußen stürzten sie sich auf ihre Schlitten, und fuhren davon; sie ließen ihre Kutscher auf die Pferde einschlagen, um dem Tode einen Vorsprung abzugewinnen, der hinter ihnen herjagte, auf einem schwarzen Klepper, dessen Geschirr wie kleine Glocken in ihren Ohren klingelte. Keiner sah sich nach dem andern um, alle waren stumm vor Entsetzen. Und wo ihre Schlitten auf dieser verzweifelten Jagd durchkamen, da sahen sie Tote liegen, die eben gefallen waren, krepiert auf der Straße, mitten auf der Straße krepiert, und die Schlitten fuhren drüber hin, und das Blut der Gefallenen spritzte an den Kufen aus. Gegen den Abend, um fünf Uhr waren die Straßen Charbins wie ausgestorben.

Kein Schlitten fuhr mehr über den Korso, keine russische Uniform zeigte sich mehr. Keine von den Weibern aus dem Tingeltangel ließ sich mehr sehen. Und in dem weißgelben Abendhimmel, der vor Kälte zitterte, erschien wie eine schwarze Wolke das Haupt der Pest, das mit einem unhörbar grausigen Lachen Besitz nahm von Charbin, dem großen Charbin, der Metropole der Steppen, dem lustigen Paradiese des Lasters.

 

 

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Der Dieb. Ein Novellenbuch von Georg Heym. (postum hg. 1913)

Georg Heym, zeitgenössisches Photo

Bei Georg Heyms „Der Dieb, ein Novellenbuch“ handelt es sich um einen Buch mit expressionistischen Kurznovellen: „Der fünfte Oktober“, „Der Irre“, „Die Sektion“, „Jonathan“, „Das Schiff“, „Ein Nachmittag“ und „Der Dieb“. Wir lesen Porträts von Außenseitertypen, deren aufgestauter Lebenshass entweder in physische Gewalt umschlägt oder die an der psychischen Gewalt einer kalten Umwelt zugrunde gehen. Was der Mensch nicht dahinrafft, erledigt schließlich die Natur. Doch alle, ob nun verroht oder sensibel, scheinen sie eins zu suchen: Halt, Verständnis, Liebe. Der Irre sehnt sich auf seinem Rachefeldzug, in Momenten, in denen ihm seine Schreckenstaten bewusst werden, nach dem verhassten Arzt. Jonathan muss die Sehnsucht nach Wärme und Zuneigung mit seinen zwei Beinen bezahlen. Am abstraktesten wird die Sehnsucht nach Beachtung in der Liebe des Diebes zu da Vincis „Mona Lisa“, die ihre ablehnende Haltung und Arroganz gegen ihn mit der Vernichtung büßen muss. Dem Leser bleibt die Erkenntnis: „Wir alle sind Jäger und Gejagte, Täter und Opfer. Das Glück lässt sich ohne Leid nicht erfahren.“ Uns bleibt die Ungewissheit, ob man Heyms einziges Prosawerk großartig oder abscheulich finden soll.

 

Weiterführend

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.