Vom geschriebenen Sprechen

Nina Nowakowski nimmt „Kommunikative Formate in mittelhochdeutschen Kurzerzählungen“ des Stricker in den Blick

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den vielleicht bekanntesten Texten des Stricker gehören die kritisch-hintergründigen Taten des Pfaffen Amis, und auch wenn diese definitiv nicht zur Gattung der Kurzerzählungen gehören, sind sie doch – quasi als konstruktiver Themenbruch – in die vorliegende Publikation aufgenommen worden, die eine Überarbeitung des Dissertationsprojektes der Verfasserin Nina Nowakowski darstellt. Das Ziel dieser Arbeit umfasst einerseits die Kontextualisierung der Stricker’schen Texte in einen sprechsituationsbezogenen Rahmen, andererseits deren Verbindung mit mehreren theoretischen Metaebenen. Im Vordergrund als durchgehend leitendes Element erkennbar ist aber in erster Linie die Bezugnahme auf einen übergeordneten Definitionsrahmen, an dem die untersuchten Texte und Textabschnitte orientiert sind.

Dass dies mitunter irritiert, wird bereits in der Einleitung erkennbar. Hier werden vor der Hinführung zu Aufbau und Fragestellung der Publikation zunächst die „Kurzerzählungen des Strickers als Sprechdichtungen“ anhand einer „Annäherung am Beispiel des ‚Klugen Knechts‘“ thematisiert. Das geschieht adäquat und mit Blick auf gewandelte Forschungsdiskussionen und -konsense auch weit über eine bloße Paraphrasierung hinausweisend. Gleichwohl wäre es – nicht allein mit Blick auf die Rezeptionsgewohnheiten des Leserinnen- und Leserkreises – zielführender gewesen, diesen Abschnitt erst als zweiten Unterpunkt zu setzen.

Ziel des Werks ist es, einen stimmigen Zugang zu eben der Kleingattung der Kurzerzählung herzustellen und dabei formale und strukturbezogene Elemente mit inhaltlichen Aspekten zu verknüpfen. Dass dabei eine Begründung der Poetik und Erzählweise der Stricker’schen Kurzepik im Feld der historischen Kommunikationspragmatiken gesucht wird, ist dabei naheliegend. Wo auch sonst sollten gerade diese kürzeren Texte ihren Ursprung haben? Und dabei ist es letzten Endes einerlei, ob – wie gerade in der älteren Germanistik postuliert – jene eine tatsächliche Übernahme aus der Sprechwirklichkeit sind oder dies nur vorgegeben ist beziehungsweise wurde.

Nina Nowakowski analysiert die textimmanenten Darstellungen von „Rat, Streit und religiösem Sprechen“ durch die Anwendung kommunikationstheoretischer, narratologischer sowie medialitätshistorischer Methodik. Das Anregende scheint hier in der Verbindung unterschiedlicher Erklärungsfelder zu liegen, die in Summe einen zumindest veränderten Blick auf die Texte zu ermöglichen hilft.

Diese drei Inhaltsfelder werden dementsprechend mit eigenen Kapiteln gewürdigt, denen die Autorin einen eigenen Abschnitt zu den methodischen Überlegungen voranstellt. Dabei werden zunächst die unterschiedlichen „kommunikativen Formate“ vorgestellt, die anhand der Parameter „[v]erbale Interaktion, reduziertes Personal und narrative Serialität“ auf die Kurzprosa des Stricker angewendet werden sollen und in vorausgreifenden Textbeispielen dann auch angewendet werden. Nicht unwesentlich ist ferner der sich anschließende Hinweis auf die (formalen) Überschneidungen der Unterkategorien „Erzählung“ und „Rede“ der Gattung Reimpaardichungen.

In diesem Kontext ergibt sich als konsequente Fortführung der strukturorientierten Metabetrachtung der Verfasserin, einen knappen Abriss zur Diskussion über die Beziehung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit der mittelalterlichen Literatur vorzustellen und dabei darauf zu verweisen, dass das bis in die Siebziger- und Achtzigerjahre vertretene „Primat der Schriftlichkeit“ in mittelalterlichen Texten mittlerweile überwunden oder zumindest infrage gestellt sei. Es wäre allerdings in diesem Zusammenhang vielleicht auch der Hinweis darauf angebracht, dass damit in mancher Hinsicht, gerade in Bezug auf die kürzeren Textformate, Betrachtungsweisen aus den Anfängen der Germanistik wieder diskutiert und ähnliche Positionen vertreten werden. Über den „kommunikative[n] Erzählstil als blinde[n] Fleck“ (die griffige Pointierung taucht im Fließtext leider nicht auf) führt diese weitergehende Einleitung dann schließlich „[v]on der Poetologie zur Pragmatik“, die von Nowakowski so angelegt ist, dass sie die Möglichkeiten durch Sprechen und damit das Durch-Sprache-Handeln als wesentliche Elemente der Reimpaardichtungen des Stricker – und damit als Mittel der Interpretation – darlegt.

Im ersten Schwerpunkt wird die konsliarische Kommunikation in den Mittelpunkt gestellt, das heißt, es geht um Beratungsinszenierungen in den Testen des Strickers. Bevor allerdings die ‚anwendungsorientierten‘, also auf die Untersuchung einzelner Texte bezogenen Aspekte anheben, bietet Nowakowski einen Überblick der Forschungsgeschichte zu Überlieferung und Bedeutung des Beratens in mittelalterlicher Kultur sowie Literatur und speziell in den mittelhochdeutschen Kurzerzählungen.

Mit der Erzählung Der Gevatterin Rat beginnen die eigentlichen Analysen zu den ‚ratgebenden‘ Stricker-Texten. Diese Erzählung scheint zunächst alles aufzubieten, was eher in den Kontext moderner schmachtender Romantik passt: Einen Ehemann, der seine Frau hasst, die gehasste und auch misshandelte Frau sowie die Ratgeberin, die durch Rat und Anwendung geschickter Kniffe den, vom Ehemann erhofften, (Schein-)Tod der Frau inszeniert und diese dann als unerkannte Schönheit wieder ins Spiel bringt – mit dem Ergebnis einer vermeintlich neuen, aber eben vorher schon bestehenden Liebeskonstellation. Allerdings war der Stricker keineswegs die Prädestination Rosamunde Pilchers, denn durch den Umstand, dass diese Geschichte ruchbar gemacht wird, wird der vom Gewalttäter zum romantisch Liebenden Konvertierte Spott und Häme ausgesetzt. Zwar wird hier zentral mit den Begriffen ‚Liebe‘ und ‚Treue‘ operiert, jedoch ist dies offensichtlich nur Camouflage, die der schwankhaften und wohl auch gesellschaftskritischen Komposition eine Art höfischen Tarnmantel umhängt.

Das Feld des Vertrauens ist wohl auch grundsätzlich für die Konstellation Beraten/Beraten-Werden unabdingbar und wird dementsprechend in Texten, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, relevant. Auch vom Stricker wird dies in Der Gevatterin Rat, aber auch in Der junge Ratgeber konstruktiv angewendet. Die Autorin weist hier anhand des Stricker-Textes auf, wie die Trias von These-Antithese-Synthese in dieser Gattung funktionieren kann. Misstrauen und Vertrauen einem Ratschlag gegenüber sind nicht mehr lediglich Antipoden, sondern der durch diese Positionierung generierte Konflikt wird funktional in das Textganze eingearbeitet. Eine weitere, (pseudo-)magisch-märchenhafte Komponente des Beratens tritt in Der wunderbare Stein – der in Wirklichkeit eben nur ein Stein ist – auf den Plan und wird im Kontext feudaler Strukturen, also der seinerzeitigen politischen Ebene deutlich. Täuschung, Leichtgläubigkeit und Weiteres mehr – fast erscheint einem der Stricker in seinen Texten gelegentlich als Zeitreisender oder zumindest vorausschauend, was etwa diverse Konstanten im politischen Leben angeht.

In gewisser Hinsicht bleibt das Übernatürliche auch in den Folgebeispielen präsent, da die Protagonisten der folgenden Beispiele Tiere sind. Der Wolf und sein Sohn erfüllt einerseits zwar die fabeltypischen Stereotype der wölfischen Grausamkeit, durchbricht aber das entsprechende Grundgefüge dadurch, dass der ältere Wolf seinen Nachwuchs opfert, um sein eigenes Überleben zu sichern, sich also radikal der ‚elterlichen Fürsorgepflicht‘ entzieht. Die Analogie zum Judaskuss und seinen Folgen wird bereits in der Kapitelüberschrift gezogen, dann im Fließtext ausgeführt – und schließlich doch verworfen. Daher stellt sich die Frage, warum diese offensichtlich nicht tragfähige Komponente überhaupt erst eingebracht wird.

Auch mit Der Kater als Freier bewegt man sich im Bereich der Fabel, wobei der Text, in dem die Hybris ein wesentliches Element darstellt, offenbar insofern dem klassischen Anspruch an Fabeln Genüge tut, als hier ein Prozess der Selbsterkenntnis angestoßen wird, der sich problemlos auf die Welt menschlicher Gesellschaft(en) übertragen lässt.

Menschlich wird es auch wieder, wenn in Edelmann und Pferdehändler soziale Gefüge aufeinandertreffen, die aufgrund der vorgegeben gesellschaftlichen Asymmetrie gar nicht gleich gewichtet sein können. Hier erkennt Nina Nowakowski den Rat als beredte Vernebelungstaktik, denn es handelt sich bei den im Text geführten Verhandlungen eben nicht um den sachorientierten Diskurs, sondern um den – erfolgreichen – Versuch des geizigen Adeligen, sein standesmäßig unterlegenes Gegenüber zu betrügen. Dass entgegen der vergleichbaren Mären des Stricker hier keine ‚moralische Auflösung‘ erfolgt, der Betrüger also mit seinem Verhalten erfolgreich ist, mag irritieren; dieser (Erwartungs-)Bruch wirkt aber als ‚unsichtbare Erzählungskomponente‘ produktiv. Dass im weiteren Sinne auch die Dichtung Der unbelehrbare Zecher echte Lebenswelten widerspiegelt, verwundert nicht: Alkoholkonsum und -missbrauch sind nicht erst seit der Neuzeit ein Problem, und wie es noch oft genug heutzutage der Fall ist, schlägt der trinkfreudige Protagonist dieses Textes sämtliche Warnungen und Ermahnungen in den Wind. Dass in diesem Kontext das Attribut des Agonalen gewählt wird, ist durchaus doppelsinnig.

Auf das (Be-)Raten folgt das Streiten, und dementsprechend arbeitet die Verfasserin sich an Stricker-Texten zu diesem Bereich ab, den sie summierend unter dem Begriff der „kontroversen Kommunikation“ zusammenfasst. Auch hier wird zunächst ein zweigeteilter Forschungsüberblick gegeben. Dass dabei Grundsätzliches zum Tragen kommt, wird bereits im ersten Beispieltext Frau Ehre und Frau Schande deutlich gemacht, in dem es – als „prototypische disputatio“ – um moralisch-ethische Grundsätze oder, wie Nowakowski es formuliert, die „Konfrontation von Wertlogiken“ geht. Die Brechung des eigentlich klaren, monolithischen Wertesystems erfolgt durch die Einbeziehung des ‚menschlichen Faktors‘ in Person eines Ritters, der gewissermaßen als Schiedsrichter agiert, dessen Urteil jedoch eben aufgrund der vorgegebenen Werteordnung bereits feststehen muss.

In Ehescheidungsgespräch sowie Das erzwungene Gelübde werden jeweils unterschiedlich Aspekte des Streitens in den Kurzerzählungen des Stricker herangezogen. Beide Texte weisen eine Art Happy End auf, wobei die Autorin aufgrund – tatsächlicher oder vermeintlicher – Akzentunterschiede beiden Texten jeweils ein Unterkapitel widmet. Auffällig ist hier insbesondere der Verweis darauf, dass – entgegen der gängigen, etwa von Walter Haug vertretenen, Forschungsmeinung – den Kurzerzählungen des Stricker keineswegs trostlose Abschlüsse immanent seien, sondern „die unversöhnlichen Handlungsverläufe in den Kurzerzählungen des Strickers vielfach als Versuche zu verstehen sind, Dynamiken sozialer Dissoziation zu problematisieren und damit ex negativo auf die Relevanz einer versöhnlichen Lösung im Falle eines Streits aufmerksam zu machen“. Zwei Seiten einer Medaille?

Ob „Spott als politisch nachhaltige Konfliktlösungsstrategie“ funktionieren würde, wie es Nina Nowakowski anhand einer (außen-)politisch brisanten Konstellation (Der arme und der reiche König) herausarbeitet, mag dahingestellt sein. Zumindest werden hier kontroverse, aber lesenswerte Konstellationen hinsichtlich dieser Kurzerzählung des Stricker ins Feld geführt, denn immerhin „wird deutlich, dass Dummheit Streit begünstigen und dadurch Herrschaft destabilisieren, Weisheit hingegen Streit schlichten und dadurch Herrschaftsverhältnisse nachhaltig stabilisieren kann“.

Während also im herrschaftlich angelegten Streithabitat der ‚echte‘ Konflikt dominiert, sieht die Autorin in der Erzählung Die beiden Knappen das Streitgespräch eher als sportlich-freundschaftliches Wettkampfgeschehen an, das damit eher eine weitere Basis eben dieser Beziehungskonstellation schafft. Ganz anders geht es in der den Abschnitt „Streit“ abschließenden Erzählung Der eigensinnige Spötter zu. Dieser reichlich makabre Text endet tatsächlich agonal: Eine von der Titelfigur initiierte Wette endet für den Initiator tödlich. Es geht um das in Form einer Wette vorgebrachte Postulat, durch fortwährende, eigentlich in Geringfügigkeiten bestehende Störung eine nachgiebige und friedfertige Person zum Äußersten reizen zu können. Und tatsächlich, der Spötter gewinnt seine Wette, verliert aber gleichzeitig sein Leben. Dass hier nicht allein soziale Konstellationen, sondern moraltheologische angesprochen sind, liegt auf der Hand, und damit ist auch ein geschickter Abschluss dieses Abschnitts geschaffen, der gewissermaßen direkt zum letzten Themenkomplex überleitet.

Dass diese „religiöse Kommunikation“ durch die Schlagworte „Beten, Beerdigen, Betrügen“ gekennzeichnet wird, mag einerseits irritieren, passt andererseits jedoch recht gut zu dem, was vom Stricker zu erwarten ist. Auch hier ist – adäquat zu den vorangehenden Themenkomplexen ein Forschungsüberblick vorangestellt, der wieder sowohl Allgemeines als auch Spezifisches zu mittelhochdeutschen Kurzerzählungen beinhaltet. Dabei wird erneut die geschickte Überleitung zu den Kerntexten möglich gemacht, anhand derer die Autorin ihre Leitthesen durchdekliniert.

Mit einer diabolischen Kurzerzählung (Der Richter und der Teufel) wird dieses Themenfeld unversehens in den Antagonismus religiöser Wahrnehmung und Wirksamkeit überführt. Nur scheinbar steht der Teufel vor Gericht, und nur scheinbar ist der Richter inkarnierter Vertreter eines objektiven und übergeordnet gültigen Rechtssystems, denn der Fortgang der Erzählung weist auf eine tiefere Dimension, die sich erst durch das Auftreten einer weiteren Person offenbart. Während bis zum Auftreten einer alten Frau der Anschein aufrechterhalten wird, der Richter wolle tatsächlich den ‚sündigen Teufel‘ zur Rechenschaft ziehen, wird später deutlich, dass der vermeintlich aufrechte Diener Justitias korrupt und viel schlimmer als der Teufel ist. Dementsprechend ist das ‚negative Gebet‘ jener Frau, also das Verfluchen des sündhaften Richters, das Medium, das diesen schließlich dorthin führt, wo er hingehört: in die Hölle. Dass dieses Motiv in unterschiedlichen Ausführungen auch noch in den deutschsprachigen Märchensammlungen des 19. Jahrhunderts auftaucht, verweist auf die soziale Brisanz und Lebendigkeit dieses Topos.

Eine ähnlich fortreichende Traditionslinie findet sich auch für die anschließende Kurzerzählung Die drei Wünsche, anhand derer Nowakowski so etwas wie ‚theologische Intelligenz‘ erörtert. Um passend auf die Bergpredigt zurückzuweisen: Die geistig Armen finden hier nicht das Himmelreich, sondern scheitern. Dies geschieht, weil das intensive Beten der Eheleute von Gott erhört und mit besagten drei Wünschen belohnt wird, die aber nicht angemessen Anwendung finden. In einer Art ‚negativer Theologie‘ sieht der Ehemann am Ende nur den letzten Ausweg, sich von Gott den eigenen Tod zu wünschen, was ihm auch erfüllt wird. In den späteren Märchensammlungen geht es zumeist nicht derart letal zu, wenngleich oft genug darauf verwiesen wird, dass zumindest einer der Wünsche spiritueller Natur hätte sein müssen. Die Sanktion wird dann allerdings ins Jenseits verlegt. In der harmlosesten Form, jedoch indirekt theologisch bedingt, findet sich das Grundmotiv von Gunstgewährung und an- beziehungsweise abschließender Strafe im Märchen Vom Fischer und seiner Frau.

Der durstige Einsiedel wie auch die darauf folgende Strickererzählung von der Martinsnacht verbleiben zwar im Bereich Kirche und Theologie, jedocht geht es hier im Unterschied zu den ersten beiden Erzählungen nicht um das Feld des Transzendentalen, sondern um die Lebenswirklichkeit beziehungsweise Erfahrung mit dem Gebaren der ‚frommen Männer‘. Folgerichtig werden diese Texte unter dem Begriff der „Scheinheiligkeit“ gefasst, das heißt auf die Tricks und Täuschungsmanöver der Kleriker hin unter die Lupe genommen, die ja häufig genug auch in anderen Stricker-Erzählungen thematisiert werden. Das Auseinandergehen von Anspruch und Wirklichkeit bleibt hier also im irdischen Raum, und so lässt sich das Schwankhafte der Handlung relativ unbeschwert genießen. Argumentationskern ist hier, dass Rhetorik zur (zumindest scheinbaren) Generierung frommen Lebens zu führen vermag – was letztlich Fassade bleibt. In diesen Reigen gehört selbstverständlich ebenfalls der Pfaffe Amis, dessen „Kirchweihpredigt“ als Beispiel listigen Kalküls in pastoraler Funktion möglicherweise zur „Manipulation als Dienst am Menschen“ führt. Gleichwohl zeigt sich hinsichtlich des theologisch-kirchlichen Sprechens (oder „religiöser Sprechformate“, wie die Autorin es formuliert) „vor allem die Gefahr der Manipulation“. Dies kann nur geschehen, weil in der Stricker’schen Diktion hier ausnahmslos alle Lügen funktionieren.

Dass Nina Nowakowski ihr Fazit mit einem Rückgriff auf Rudolf von Ems einleitet, der den Stricker in einer Passage seines Alexanderromans einerseits lobte, dieses Lob aber sofort durch den Zusatz „wenn er will“ einschränkte, ist ein nicht ungeschickter Einstieg, in dem womöglich ein Hauch Exkulpation mitschwingen mag. Geschickt ist auch die angehängte bildliche Darstellung, mit der das Phänomen der „Sprechdichtung“ illustriert werden soll, das tragend für die ganze Arbeit ist. Denn:

In einer von Oralität geprägten Kultur wie der des Mittelalters verwundert dieser Fokus auf das Sprechen kaum, sind doch die Mechanismen verbaler Kommunikation von zentraler Bedeutung für eine Vielzahl sozialer Prozesse. Entsprechend ist es naheliegend, dass das Sprechen in weiteren Teilen der mittelalterlichen Literatur und in damit verbundenen Illustrationen einen wichtigen Platz einnimmt.

Selbstverständlich ist dies zutreffend, doch vielleicht gerade weil dem so ist, stellt sich hier die Frage nach der konkreten Aussagekraft dieser allgemein gehaltenen Formulierung.

Eine adäquate Bibliografie sowie ein knappes, aber zielführendes Register runden das handliche Buch ab. Es ist sicherlich gut, wieder einmal zum Œvre des Stricker geleitet zu werden, das schließlich vor einiger Zeit – wenngleich nicht unbedingt in zentraler Position – zum Studienkanon der Altgermanistik gehörte. Somit ergibt sich ein grundsätzlich positives Bild; das Format des Bandes ist lesefreundlich und der feste Einband nicht nur attraktiver, sondern auch robuster als eine flexible Bindung. Die Argumentation Nowakowskis ist stringent und baut auf den bisherigen Forschungsergebnissen auf, ohne diese lediglich linear fortzuführen oder grundsätzlich zu verwerfen. Dennoch bleibt dabei der Eindruck, dass das im Voraus formulierte Ziel am Ende nur bedingt erreicht ist. Auch in der bisherigen Forschung ist – wie die Autorin in ihren Ausführungen auch immer wieder einräumt – das Phänomen der ‚mündlichen Dichtung‘ keineswegs ausgespart geblieben.

Das zu erwartende Neue wäre hier also die argumentativ verfochtene Kategorisierung, die stichhaltig erscheint, auch wenn ihr nicht in jedem Falle unbedingt zugestimmt werden muss. Doch jede dieser Kategorien wird anhand lediglich eines Textes erarbeitet, sodass das, was als Aufgabenstellung formuliert und im Fazit angedeutet wird, nur bedingt aufgelöst werden kann: Die Frage nämlich, „inwieweit andere Texte in der oral geprägten Kultur des europäischen Mittelalters vom Sprechen erzählen und dabei Wirkweisen, Dynamiken und Logiken des Sprechens herausarbeiten“ – abgesehen davon, dass Texte keine handelnden Personen sind und demzufolge gar nichts „herausarbeiten“ können. Gleichwohl weckt das Buch die Lust, sich mit dem Werk des Stricker zu befassen und bietet die Möglichkeit, ganz spezielle Aspekte seiner Kurzerzählungen wahrzunehmen. Das allein ist schon ein gutes Argument für das Sprechen und Erzählen beim Stricker – auch wenn es der Verkaufspreis definitiv nicht ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Nina Nowakowski: Sprechen und Erzählen beim Stricker. Kommunikative Formate in mittelhochdeutschen Kurzerzählungen.
De Gruyter, Berlin 2018.
298 Seiten, 109,95 EUR.
ISBN-13: 9783110568714

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