Wie rassistisch ist der Literaturbetrieb? Der junge Senegalese Mohamed Mbougar Sarr hat einen grandiosen Roman geschrieben und stellt darin unbequeme Fragen

Virtuos verwischt der in Paris lebende Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Umso schärfer treten die Widersprüche unserer Zeit hervor.

Irene Binal
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Der senegalesische Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr.

Der senegalesische Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr.

PD

Der junge Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr gehört zu den aufregendsten jungen Autoren der französischen Literaturszene. 1990 in Senegal geboren, lebt der Autor von mittlerweile fünf Büchern heute in Paris. Im vergangenen Jahr wurde sein jüngster und als bisher einziger ins Deutsche übersetzte Roman mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet. Darin öffnet sich der Boden in eine schwindelerregende Leere: Der Roman handelt von einem fiktiven Buch eines ebenso fiktiven senegalesischen Autors namens T. C. Elimane, das 1938 erschienen ist und für einen literarischen Skandal sorgte. Dann verschwand es – wie auch sein Schöpfer – wieder von der Bildfläche.

Elimanes Buch mit dem unheilverheissenden Titel «Das Labyrinth der Unmenschlichkeit» wird für den jungen Senegalesen Diégane Latyr Faye zu einer Obsession. Diégane lebt in Paris, schiebt seine Doktorarbeit vor sich her und träumt davon, selber einen grossen Roman zu schreiben. Als er eine senegalesische Autorin namens Marème Siga D. trifft, die nicht nur ein Exemplar des geheimnisvollen Buches besitzt, sondern auch mit Elimane verwandt ist, wird sein Interesse erst recht befeuert.

Erst gefeiert, dann vernichtet

Ein bisschen klingt das nach Krimi, aber tatsächlich ist Mohamed Mbougar Sarrs Roman «Die geheimste Erinnerung der Menschen» viel mehr: In einer kraftvoll-schillernden Prosa erzählt Sarr eine kunstvoll verflochtene Geschichte von der Literatur und ihren Gefahren, von schwarzen Autoren und weissen Kritikern, von Heimat und Exil, von der Last der Vergangenheit und den Abgründen der Gegenwart. Von Elimanes Roman erfährt man derweil nur, dass es um einen König geht, der in seinem Streben nach Macht auch vor dem absoluten Bösen nicht zurückschreckt. Er wurde nach seinem Erscheinen zunächst gefeiert und dann wegen Plagiatsvorwürfen vernichtet.

Sarr macht bald deutlich, dass Elimanes Kritiker weniger auf Inhaltliches als vielmehr auf die Hautfarbe des Autors abzielten. Das Buch sei «alles, nur nicht afrikanisch», hiess es, und im Übrigen habe er die Legende eines senegalesischen Stammes gestohlen. Mit sichtlichem Vergnügen nimmt Mohamed Mbougar Sarr den Literaturbetrieb aufs Korn, mit dem er wohl seine einschlägigen Erfahrungen gemacht hat.

Seltsamerweise haben sich alle diese Kritiker später umgebracht, was Diégane zu der Frage führt, ob womöglich Elimane dabei seine Finger im Spiel hatte. Dies ist nur eine von vielen Fragen, die sich vor Diégane und dem Leser auftürmen, während sich der Text elegant durch Zeit und Raum schlängelt, von Paris über Amsterdam und Argentinien bis nach Senegal, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart.

Mithilfe der Erzählungen von Siga D., der Aufzeichnungen einer Journalistin, der Erinnerungen einer haitianischen Dichterin, die Elimane in Buenos Aires kennenlernte, oder der Berichte von Elimanes Pariser Verlegern (denen unter der Nazi-Besatzung ein grimmiges Schicksal beschieden war) nähert sich Diégane dem geheimnisumwitterten Autor. Immer deutlicher erkennt er, wie sehr hier Literatur und Leben miteinander verflochten sind: «Am Anfang steht die Melancholie, ein Mensch zu sein; nur die Seele eines Künstlers – eines Schriftstellers – kann sie mit einem Blick ergründen und in jedem zum Klingen bringen.»

Ein solcher Künstler ist Elimane, dessen Roman Diégane für die Quintessenz aller Romane hält, ein Werk also, dem nichts mehr hinzuzufügen ist. Auf die Frage, warum man trotzdem weiterhin schreiben soll, findet Diégane eine gleichermassen trotzige wie resignative Antwort: «Wir schrieben, um auszudrücken, dass wir nicht mehr wussten, was wir auf der Welt anderes tun sollten, als zu schreiben, ohne Hoffnung, aber ohne uns einfach damit abzufinden, unbeugsam, mit Freude und bis zur Erschöpfung, mit dem einzigen Ziel, so gut wie möglich daraus hervorzugehen.»

Verloren im Exil

«Wir», das sind mehrere junge schwarze Schriftsteller in Paris, verbunden durch «das stille Eingeständnis, dass wir Afrikaner ein wenig verloren und unglücklich in Europa waren, auch wenn wir so taten, als wären wir überall zu Hause». Das verweist auf die Erfahrungen im selbstgewählten Exil und auf die Frage, ob man seine kulturellen Wurzeln verleugnet, wenn man sich als Afrikaner auf Europa einlässt. Seine Suche führt Diégane schliesslich zurück nach Senegal, wo er in eine Zeit heftiger Unruhen gerät. Das gibt Sarr ganz nebenbei die Gelegenheit, die politischen Instabilitäten des Kontinents zu thematisieren.

Berauschend ist dieser Roman, reichhaltig und tiefgründig und in seiner Vielfalt oft so rätselhaft wie Elimanes Verschwinden, das im Schicksal des aus Mali stammenden Schriftstellers Yambo Ouloguem sein Vorbild hatte. Ihm hat Sarr sein Buch gewidmet, das den Raum zwischen Paradies und Verdammnis auslotet. Jenes Paradies, aus dem Elimane verbannt wurde, um, wie Diégane bemerkt, auf dessen Rückseite Zuflucht zu finden: «Und was ist die Kehrseite des Paradieses? Eine Hypothese: Die Kehrseite des Paradieses ist nicht die Hölle, sondern die Literatur.»

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser-Verlag, München 2022. 448 S., Fr. 36.90.

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