Offenbar sind die Zeiten vorbei, in denen man zufrieden sein wollte. In denen man sich selbst mit Yoga und Meditation ins Lot brachte, um ein möglichst ausgeglichenes Gemüt zu Markte zu tragen. Die Zeit der "Good-vibes-only"-Posts und des positiven Denkens, das es gerade angesichts weltlicher Katastrophen zu kultivieren galt. Geht man nach dem deutschen Buchmarkt, könnte man sagen: Womöglich hat sich da was aufgestaut. Denn das Gefühl dieses Sachbuchjahres ist die Wut. Eine ganze Reihe Bücher rufen auf zum Faxendickehaben und zum Außersichsein. Was an sich schon einmal merkwürdig klingt, denn wie Seneca sagte, ist die Wut eine impulsive Regung, einer bewussten Steuerung wenig zugänglich. Aber man lässt sich ja auf allerhand ein. Lassen wir uns also ein. Im Frühjahr erschien Wut! von Johanna Kuroczik (Hirzel), eine Analyse des als Todsünde verunglimpften Gefühls, das jedoch eigentlich gepflegt werden sollte, schreibt die Autorin. Es sei besser als sein Ruf. Noch weiter gehen zwei Neuerscheinungen, Wutschrift von Pia Klemp (Penguin) sowie Wut und Böse von Ciani-Sophia Hoeder (hanserblau), die beide in der Aufforderung münden: Ballt die Fäuste! Wer "nicht wütend ist, hat nur (noch) nicht richtig aufgepasst" (Wutschrift).

Die emotionale Zeitenwende bahnt sich schon eine Weile an. Seit 2018 Rage becomes her von der US-Journalistin Soraya Chemaly erschien, ein Manifest gegen die Unterdrückung der weiblichen Wut, wird das Thema rauf und runter erwähnt im feministischen Diskurs. Auch der dieses Jahr viel diskutierte Roman Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl lässt die Überlastung der Frauen vor allem in dieses Gefühl münden. Außerdem wird derzeit die 1992 verstorbene Lyrikerin und Aktivistin Audre Lorde wiederentdeckt, die bekannt dafür ist, über ihre Wut zu schreiben. Voriges Jahr erschien ihr Buch Sister Outsider (Hanser) erstmals auf Deutsch, darin unter anderem ihr Essay Vom Nutzen der Wut. Selbst unter Buddhisten, den Meistern der Ausgeglichenheit, wird die Rage plötzlich zur Tugend. Im Jahr 2020 erschien Be Angry!, ein Buch, in dem seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama persönlich, die "Kraft der Wut" preist und die Gläubigen animiert, das Gefühl "kreativ" zu nutzen.

"Toxische Positivität"

Trotzdem müssen auch die aktuellen Aufrufe natürlich mit der Klage beginnen, wie verkannt die Wut bisher gewesen sei. So gehört es sich schließlich, wenn ein Gemütszustand von ganz hinten im Schrank hervorgeholt und zur Haltung to have erklärt wird. Wir lebten etwa in einer "Dauer-Happy-Welt", schreibt die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder in Wut und Böse, versuchten Probleme wegzumeditieren und übten uns in der Praxis des Smirkings, des unterdrückten Wutlächelns. Dabei seien "die Folgen von internalisierter Wut desaströs". "Essstörungen, Selbstverletzungen, Kopfschmerzen, ein mangelndes Selbstwertgefühl, erhöhte Angstzustände, Burn-out, Depressionen", das alles drohe dem, der seine Wut nicht auslebe. Wehe also der "toxischen Positivität"! Erstaunlich, wie beweglich das Konzept der Toxizität ist, von zu negativen bis zu positiven Dingen, das eigene Befinden als einziger Fixpunkt, ohne das Mental-Health-Vokabular je verlassen zu müssen.

Und warum der Gute-Laune-Zwang? "Glückliche Menschen konsumieren und liken mehr. Unglückliche Menschen sitzen daheim und starren die Wand an", schreibt Hoeder. Hieß es nicht kürzlich noch, der Unglückliche konsumiere mehr, weshalb der einzige Weg, dem Konsumterror zu entkommen, innere Ruhe und Zufriedenheit und das Runterdimmen jedes Bedürfnisses sei? Nicht nur die Toxizitäts-, auch die Konsumismusklage ist versatil.

Die Wut ist der Fluchtpunkt aus Selfcare und Gerechtigkeitsstreben

Jedenfalls sei der Wut seit Ewigkeiten Unrecht getan worden, da sind sich die drei Bücher einig. Nicht nur Seneca, der sie eine "kurze Geisteskrankheit" nannte, verortete sie somit wohl fälschlicherweise außerhalb der Sitten. "Die Behauptung, dass Wut etwas Schlechtes sei, zieht sich wie ein roter Faden bis in die Wissenschaft", schreibt Hoeder.

Ab und zu mal ausrasten ist also gut für die Laune und die Gesundheit und um sich mal wieder zu spüren. "Der Ärger energetisiert uns", sagt die Psychologin Verena Kast, die in mehreren dieser Bücher auftritt. Wie gut, dass es ärgerliche Ereignisse en masse gibt. Nur wissen die wenigsten offenbar, diese "Amphetaminspritze" zu nutzen, schreibt Pia Klemp (Wutschrift): "Wo man die Wut erwarten sollte, tut sich eine Ödnis auf." Und wo man sie erwarten sollte, damit meint sie: angesichts von Rassisten, Frauenhassern und Klimakillern. Nicht wütend zu werden, ist für sie nicht nur "selbstzerstörerisch", sondern auch "feige". Wer nicht wütend wird, akzeptiere den Stillstand. "Es gibt also nicht nur eine psycho-hygienische, sondern auch eine solidarisch-demokratische Verpflichtung zu dezidierter Wut", schreibt Klemp. Die Wut ist somit der zwangsläufige Fluchtpunkt von Selfcare und politischem Veränderungswillen, von Psychohygiene, Mental Health und dem Kampf um soziale Gerechtigkeit.