Zum Denken braucht’s alle: warum Demokratie ohne Widerspruch nicht existieren kann

Freie Meinungsäusserung ist kein Recht, das Demokratien den Bürgern verleihen. Es ist ein Lebenselixier, ohne das ein freier Staat nicht auskommt. Die Politologin Antonia Grunenberg zeigt, wie Demokratien sich erneuern.

Jörg Hackeschmidt
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Demokratie lebt von der Öffentlichkeit. Aber sind die, die von sich reden machen, schon die ganze Öffentlichkeit? «Fridays for Future»-Demonstration in München.

Demokratie lebt von der Öffentlichkeit. Aber sind die, die von sich reden machen, schon die ganze Öffentlichkeit? «Fridays for Future»-Demonstration in München.

Mufkinnphotos/Imago

Man kann das Werk der politischen Philosophin Hannah Arendt auch als Kommentar zu den politischen Entwicklungen der Gegenwart lesen. Arendts Denken kreist um die Frage, was moderne, demokratisch verfasste Nationalstaaten zusammenhält. Und was sie in Gefahr bringt. Was unter bürgerlicher Freiheit zu verstehen ist und wie sich Demokratien stetig revitalisieren können.

Die Politikwissenschafterin Antonia Grunenberg, geboren 1944 in Dresden, gilt seit Jahren als Kapazität, wenn es um Arendts Leben und Werk geht. Das Hannah-Arendt-Zentrum an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg geht auf ihre Initiative zurück. Unter dem Titel «Demokratie als Versprechen» hat sie jetzt einen neuen Essay in Buchform vorgelegt, dessen Untertitel einen sofort stutzen lässt: «Warum es sich lohnt, für die Freiheit zu kämpfen».

Ist es also so weit? Sind Freiheit und Demokratie in Deutschland und anderen europäischen Ländern ernsthaft in Gefahr? Ganz so alarmistisch, wie man meinen könnte, ist der Essay nicht. Sorgenvoll aber schon. Denn Demokratien sind fragile Konstrukte, die «immer wieder das Potenzial zur Selbstzerstörung» hervorbrächten, wie Grunenberg schreibt.

Die Denkfehler von «Fridays for Future»

Sie sieht die Freiheit sowohl von rechts als auch von links bedroht, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Schwarz-Weiss-Denken an den politischen Rändern lehnt sie ebenso ab wie den Notstands-Alarmismus der Klimaaktivisten. Diese interpretiert sie als Produkte der digitalen Kommunikation: Die «totale Vernetzung» sei zu einem gefährlichen «pseudomoralischen Must» geworden.

Jeder, der sich dem Social-Media-Gruppendruck verweigere, verweigere sich damit auch dem von der iPhone-Generation postulierten «neuen Gemeinsinn», so Grunenberg. Und schlimmer noch: Social Media produzierten die Erwartungshaltung, wonach Politik ebenso schnell handeln müsse, «wie die digitalen Prozesse Erwartungen entstehen lassen». Ein Irrglaube, dem sich schon Hannah Arendt entgegenstellte: Fortschritt der Technik hat keinen Fortschritt der Demokratie zur Folge.

Die Autorin zeigt sehr plausibel auf, dass «Fridays for Future» und Co. zwei entscheidende Denkfehler unterlaufen: Erstens missverstehen sie grundlegend die Funktionsweise der direkten Demokratie (wie sie beispielsweise über einen langen Zeitraum in der Schweiz entwickelt wurde) und halten ihre kleine, aktivistische Teilöffentlichkeit für die legitime Basis von umstürzendem politischem Handeln. Grunenberg nennt das die «Phantasmagorie», das Trugbild der direkten Demokratie, das durch das World Wide Web befeuert werde.

Was keinen Widerspruch duldet

Zweitens weist sie darauf hin, dass die Klimaaktivisten in ihrer Radikalität den Charakter und die Funktionsweise einer gesunden Zivilgesellschaft geradezu konterkarierten, da ihre Forderungen ausschliesslich auf exekutives Handeln zielten und nicht auf Erkenntnisgewinn und politische Willensbildung. Doch mit der Forderung nach einer quasitotalitären Regierungspraxis im Namen der Rettung des Klimas, die keinen Widerspruch duldet, lässt sich keine Demokratie bestreiten.

Die wichtigsten Erkenntnisse des Buches stecken allerdings nicht in den analytischen Stellen, sondern in den biografischen Einschüben und Erläuterungen, die Antonia Grunenberg macht. Da kann man der Wissenschafterin, der engagierten Publizistin und Femme de Lettres dabei über die Schulter schauen, wie sie die Entwicklung ihres eigenen Denkens und Handelns heute einordnet und hinterfragt.

Wir tauchen mit ihr ein in die bewegten Zeitläufte, die ihre Generation durchschritten und entscheidend gestaltet hat. Das macht den Charme des Buches aus, gibt seinem Thema eine lebensweltliche Fundierung – und verleiht ihm Authentizität. Im August 1968 etwa ist sie auf einer Tagung des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds in Österreich, als die Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling niederwalzen. Die sowjetische Propaganda begründete den Krieg gegen die CSSR mit der Abwehr der «faschistischen Gefahr». Obwohl Grunenberg kurz vorher selbst in Prag war und mit den dortigen Reformzirkeln ausgiebig Kontakt hatte, gesteht sie: «Ich traute der totalitären Propaganda für kurze Zeit mehr als dem, was ich mit eigenen Augen gesehen und gehört habe.»

Die Gedanken der ganzen Gesellschaft

Grunenberg erläutert in grosser Aufrichtigkeit, wie sie langsam begriff, dass die geschlossene linke Weltanschauung, die sich im Westen verfestigte, keine Antwort auf grundsätzliche Fragen bot – Fragen, die auch heute und in Zukunft fundamental wichtig sind: Wie lernt man Demokratie? Wie schüttelt man autoritäre Prägungen ab? Und wie macht man eine lebhafte, offene Zivilgesellschaft so wirkmächtig, dass Politiker sie nicht ignorieren oder manipulieren können?

«Betreutes Sprechen» und ein aggressiv vorgebrachter «moralischer Bann gegen rechts» seien, so die Autorin, jedenfalls nicht nur keine Lösung, sondern trügen ihrerseits die Gefährdung und Aushöhlung von Demokratie und Freiheit in sich. Grunenberg antwortet darauf mit Oliver Wendell Holmes, einem ehemaligen Richter am amerikanischen Supreme Court. Er verteidigte 1919 das Recht von Pazifisten, gegen die Teilnahme am Weltkrieg zu protestieren, mit den Worten: «Wir erlauben freie Meinungsäusserung, weil wir den Gedankenreichtum der ganzen Gesellschaft brauchen, um uns mit den Ideen zu versorgen, die wir brauchen. Denken ist eine gemeinschaftliche Angelegenheit.»

Antonia Grunenberg: Demokratie als Versprechen. Warum es sich lohnt, für die Freiheit zu kämpfen. Europaverlag, München 2022. 208 S., Fr. 31.90.