Philipp Auerbach war der bekannteste Jude Deutschlands. Nach dem Krieg kämpfte er für die KZ-Überlebenden – bevor ihn Altnazis in einem Schauprozess aus dem Weg räumten

Der Judenhass hatte sich mit der Niederschlagung von Hitler nicht einfach in Luft aufgelöst. Eine urgewaltige Biografie gemahnt daran.

Andreas Scheiner 7 min
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«Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen», das waren seine letzten Worte. Philipp Auerbach, hier in einer Aufnahme vom Februar 1948, als er gegen den SS-General Gottlob Berger aussagte.

«Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen», das waren seine letzten Worte. Philipp Auerbach, hier in einer Aufnahme vom Februar 1948, als er gegen den SS-General Gottlob Berger aussagte.

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Philipp Auerbach lag mit gebrochenen Kniescheiben im Steinbruch von Auschwitz. Er überlebte den Todesmarsch von Auschwitz nach Gross-Rosen bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Durch das Schneetreiben stieg er über die Leichen der KZ-Insassen, die zuvor durch die Nacht getrieben worden waren, 363 Leichen zählte er.

In Gross-Rosen, wo Auerbach mit 1500 Männern in einer Baracke ohne Sanitäranlage eingesperrt war, erlebte er seine achte Einkerkerung. Bei der neunten in Buchenwald pferchten ihn die Nazis mit einigen anderen in eine Zelle, die so eng war, dass man «nicht einmal auf seinem Rücken liegen konnte, sondern nur auf einer Seite».

Philipp Auerbach hat alles gesehen. Er litt an Malaria, er überstand Fleckfieberepidemien in den Lagern. Wie oft musste er damit rechnen, den nächsten Morgen nicht zu erleben.

In der Todeszelle

Nach der Machtergreifung der Nazis war Auerbach nach Antwerpen geflohen, wo er mithilfe des Chemikalien-Grosshandels seines Vaters in Hamburg half, Aluminiumpulver und Pikrinsäure für den Bau von Bomben zu den Antifaschisten nach Spanien zu schmuggeln. Dann wurde Belgien besetzt und Auerbach, Jude und Staatsfeind, nach Frankreich deportiert, wo er irgendwann im berüchtigten Cherche-Midi-Gefängnis in Paris landete. Er sass in der Todeszelle, die Wachen wiesen ihn an, sich zu rasieren. Um vier Uhr morgens standen zwei SS-Männer im Raum, und Auerbach «glaubte, meinen letzten Gang antreten zu müssen». Die Männer, weiss Gott wieso, schlugen die Zellentür wieder zu.

Auerbach hatte oft unermessliches Glück. Oft wusste er sich aber auch aus den misslichsten Lagen zu befreien. Fünf Jahre lang hielt er allem nur erdenklichen Horror stand. Doch dann, sieben Jahre nach dem Krieg, hatte er keine Kraft mehr. Er sah seinen Kampf gegen die Nazis verloren. 1952 fand sich Philipp Auerbach, der in München als Staatskommissar für die Wiedergutmachung der Opfer des Faschismus kämpfte, in einem haarsträubenden Gerichtsprozess über Veruntreuung wieder. Ein Schauprozess war es, Altnazis richteten über ihn.

Noch am Abend der Urteilsverkündung, am 16. August 1952, setzte Auerbach einen alttestamentarischen Fluch auf ein Blatt Papier: «Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen», das waren seine letzten Worte. Dann legte er den Füllfederhalter nieder, nahm ein Glas Wasser und spülte die Überdosis Schlaftabletten, die er bereitgelegt hatte, herunter. Philipp Auerbach schlief ein und wachte nicht wieder auf.

Das «Dritte Reich» konnte einen verspäteten Triumph feiern. Seine Schlachten hatte Deutschland verloren, nicht aber den Glauben an den Nazismus. So musste es einem vorkommen. So kommt es einem vor, wenn man die urgewaltige Auerbach-Biografie von Hans-Hermann Klare liest.

«Auerbach – Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte» macht schon im Untertitel klar, was klarer dann nicht hervortreten könnte: Der Judenhass, er hatte sich nie geschlagen gegeben. Und er hatte es nach dem Krieg zuvorderst auf Philipp Auerbach abgesehen – den bekanntesten Juden Deutschlands.

Auerbach war damals die erste, praktisch die einzige Anlaufstelle für die Überlebenden des Holocausts, die Heimatlosen, die aus den Lagern kamen. «Lebende Tote, menschliche Skelette», wie Auerbach selber sagte. Der ein Meter neunzig grosse Mann wog auch nur noch einen Bruchteil seiner einst 125 Kilogramm.

«Der Knochenkocher von Buchenwald»

In Buchenwald war Auerbach dem Tod entkommen, weil man ihn im Krankenbau gebraucht hatte. Denn als junger Mann hatte er in Hamburg eine Ausbildung zum Drogisten gemacht, nun sollte er im KZ helfen, die Typhus-Epidemie in den Griff zu bekommen. Als Heilmittel half Kohle, die Auerbach aus Knochen herstellte. Bald nannten sie ihn den «Knochenkocher von Buchenwald». Nach der Befreiung des Lagers, nach der «Freude und dem schwindelerregenden Gefühl», besann er sich sofort wieder seiner Aufgabe. Im Krankenbau «begann eine harte Zeit», hielt er fest.

Es gab 9000 Patienten, jeden Tag starben 200. Auerbach gelang es, den Typhus zu besiegen. Doch drängten die Generäle der Roten Armee darauf, dass die Westler ihre Sachen packten. Buchenwald war der sowjetischen Zone zugeschlagen worden. Für die Hunderte von verbliebenen Kranken musste ein Platz gefunden werden, die amerikanische Verwaltung schickte eine Kommission los, der Auerbach angehörte. So begann die politische Karriere des Philipp Auerbach, 38-jähriger Jude, Talmud-Schüler, in Nachkriegsdeutschland.

Und damit nahm auch seine persönliche jüdisch-deutsche Tragödie ihren Anfang. Auerbach glaubte unverdrossen an ein Leben als Jude in der Heimat. Der Grossteil der Juden glaubte nicht daran. «Für Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen», schrieb etwa Leo Baeck, der grosse progressive Rabbiner, der nach London ins Exil ging.

Die Juden waren in Deutschland auch nach dem Krieg nicht erwünscht. Es gab keine «Stunde null», nach der plötzlich alle ganz anders tickten. In Düsseldorf, wohin es Auerbach zunächst verschlagen hatte, habe sich schnell gezeigt, wie wenig Verständnis die Deutschen für die Lage der Juden aufgebracht hätten, schreibt der Auerbach-Biograf Hans-Hermann Klare. «Nach einer Weile hatten selbst diejenigen, die in jenem Moment kräftig genug gewesen waren, aus dem Dreck herauszukriechen, und die sich zwischen den Leichenbergen irgendwie noch auf den Beinen halten konnten, die Hoffnung auf schnelle Verbesserung schon wieder verloren.» 28 000 Menschen starben allein in Bergen-Belsen noch in den ersten Wochen nach der Befreiung.

Als «Untermenschentum» und «Abschaum der Menschheit» seien die «displaced persons» (DP), die Juden in den Camps, beschimpft worden. Wenn etwas die DP wütend gemacht habe, stellt Klare lakonisch fest, «waren es diese Deutschen. Wenn ihnen etwas Mut machte, war es die Aussicht auf eine Zukunft möglichst weit weg von ihnen.»

Auerbach, der deutsche Jude, wollte hingegen ein Wegbereiter sein nicht nur für die Überlebenden, sondern auch «für die Rückkehr der deutschen Gesellschaft in die Zivilisation». Jude und gleichzeitig Deutscher zu sein, «war nach der Shoah ein besonders eklatanter Widerspruch. Aber es war gelebter, erfahrener Widerspruch.» Was der Historiker Sander L. Gilman sagte, verkörperte kaum jemand eindringlicher als Philipp Auerbach. Der Widerspruch war nicht auszuhalten.

Alle wollen nach Israel

«Als wir in Buchenwald auf dem Fussboden lagen, um mit dem Geheimempfänger die Ansprache von Roosevelt und Churchill zu hören, da (. . .) sahen wir vor unserem geistigen Auge, dass sich die Tore der Lager öffneten, und vor uns marschierte ein unsichtbarer Zug ermordeter Kameraden, und wir glaubten an eine Freiheit, in der uns offene Arme empfangen.» So klang Auerbach um 1947: «Das war der Traum.» Doch dann seien sie in ihrer Häftlingskleidung, «abgerissen, ausgemergelt, zum Teil zerbrochen» in die Heimatorte zurückgekommen, «sahen Trümmer, verängstigte Menschen und teilweise Hass und Verachtung».

1948 beschloss die Uno die Gründung des Staates Israel. Die Luft war «mit der unterschwelligen Aufregung Koffer packender Menschen geladen», schreibt Klare. Auerbach, der Staatskommissar in München, musste alles versuchen, um den Emigranten zumindest im Ansatz eine Wiedergutmachung herauszuschlagen, ihnen Geld für einen Neuanfang in Israel zu verschaffen.

Sie rannten ihm die Türen ein. Blankes Chaos herrschte auf dem Amt. Wenn es morgens öffnete, drängten die Massen hinein, der Portier konnte sich «nur durch Zur-Seite-Springen retten, während sich einige DPs an Treppengeländer festklammerten».

Auerbach tat, was er konnte. Er trieb ein, verteilte um. Unbürokratisch, so effizient wie möglich. Vermutlich agierte er hier und da etwas am Rande der Legalität. Bald ging jedenfalls der Überblick verloren, «ein Marktplatz für dubiose Geschäftemacherei im Umfeld der Auerbach-Behörde» entstand. Gleichzeitig richtete sich die Bundesrepublik mit ihren Nazis ein.

Gegen die Justiz der Sieger, welche bekannte und weniger bekannte Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt hatte, regte sich bei vielen Deutschen Widerstand. Klare klammert es aus, doch vielsagend ist, dass die Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik 1949 auf eine Initiative eines rechtsextremen Politikers zurückging, der verhindern wollte, dass Nazis von den Siegermächten getötet würden.

Festnahme auf der Autobahn

Während sich das Land also für seine Nazis einsetzte, wuchs die Empörung über Auerbachs vermeintliche Machenschaften. Auerbach, die Stimme der Juden, war zu laut geworden. Er war vielen lästig, man wollte ihn loswerden. Es gab eine Razzia in der Behörde, die Polizei observierte Auerbachs Wohnung. Mit mehreren Streifenwagen baute sie eine Strassensperre auf, um den Mann schliesslich in maximal effekthascherischer Manier auf der Autobahn aus seinem Wagen heraus festzunehmen.

Es folgte der Prozess, die öffentlichkeitswirksame Blossstellung. Was der Steinbruch von Auschwitz nicht vermocht hatte oder der Todesmarsch, das sollte den Richtern mit NSDAP-Vergangenheit gelingen: die Zermürbung, die Vernichtung des Philipp Auerbach.

«Schuldig eines Verbrechens des Versuchs zu einem Verbrechen der Erpressung . . .» So begann der Richter seinen verworrenen, fast sinnbefreiten Urteilsspruch, dem kein Mensch im Saal folgen konnte. An dessen Ende der Angeklagte aber zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war. Zum Vergleich Franz Rademacher, Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz: Wegen Beihilfe zum Totschlag von 1300 Juden hatte er drei Jahre und sechs Monate erhalten. Wobei er nach Anrechnung der Untersuchungshaft von 29 Monaten auch bald schon wieder auf freiem Fuss war.

In einem Wort, es war skandalös, eine Farce, man muss es gelesen haben. Hans-Hermann Klare ist ein ausgezeichneter Erzähler. Weil er nicht einfach erzählt, sondern sich hineinversetzt: in die Zeit und in den Menschen, der noch so gut sein mag und immer auch fehlbar ist. Das Buch ist Geschichtsschreibung, wie sie effektiver, nahbarer nicht sein kann.

Doch was kann sie bewirken? Am 27. Januar sind 78 Jahre vergangen seit der Auschwitz-Befreiung. Was vermag ein Gedenken noch zu leisten, wenn längst unerträglich vieles vergessen ist – vergessen wie Philipp Auerbach, diese Jahrhundertfigur?

Hans-Hermann Klare: Auerbach: Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte. Aufbau-Verlag, Berlin 2022. 475 S., Fr. 42.90.