Im Schönen das Vergängliche

In der Gedichtsammlung „Heute Mai und morgen du“ lernt man Ernest Wichner als begnadeten Lyriker kennen

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn Ernest Wichner im Literaturbetrieb vielleicht vor allem in der Rolle des Literaturvermittlers wahrgenommen wird – nicht nur als langjähriger Leiter des Literaturhauses Berlin, sondern auch als Herausgeber und Übersetzer aus dem Rumänischen etwa von Mircea Cărtărescus 2019 erschienenem epochalen Roman Solenoid – verfasste er auch immer wieder Gedichte. Die frühesten, hier abgedruckten stammen aus der 1988 erschienenen Sammlung Steinsuppe, die in dem Band als „neue Gedichte“ ausgewiesenen sind 2010 entstanden.

Wichner macht in vielen Gedichten explizit, dass Literatur immer schon ein wesentlicher Teil seiner Biografie war. Neben den zahlreichen unmarkierten Zitaten und Umarbeitungen anderer Autoren, wie Maren Jäger in ihrem kenntnisreichen Nachwort zu Heute Mai und morgen du aufzeigt, etwa von Brecht, Celan, Benn oder Rilke, geht Wichner aber auch ganz offensiv mit seinen Einflüssen um. Eine beträchtliche Anzahl der hier versammelten Gedichte sind so eine Art Dichter-Gedichte, in denen er explizit etwa auf Lioba Happel, Thomas Kling, Ernst Jandl oder Elke Erb verweist, deren Arbeiten als Zitat, Collage, Umarbeitung oder sogar Objet trouvé in Wichners Lyrik ihren Niederschlag gefunden haben. So liest man mit einigem Staunen in den Anmerkungen, dass etwa das Gedicht Desperates Berlin der Zeit 1920 wörtlich und unbearbeitet von zwei handschriftlichen Zetteln aus dem Nachlass des Autors, Übersetzers und Lektors Franz Hessel abgeschrieben worden sei.

Hierin zeigen sich neben der eigenen Lebens-, Lese- und Schreibbiografie weitere zentrale Aspekt der Lyrik Wichners, nämlich den Fragen nach dem Status von Gedichten und dem Schreiben selbst.

Ernest Wichner kam 1952 im rumänischen Banat zur Welt, wo er als Teil einer deutschen Minderheit zweisprachig, mit Deutsch als Muttersprache aufwuchs, in der er auch seine Gedichte verfasst. Auch wenn er bereits 1975 in die damalige Bundesrepublik übersiedelte, gehen seine lyrischen Arbeiten immer wieder seiner Herkunft nach, zurück zu Orten und Landschaften seiner Kindheit und Jugend. So finden sich auch einige politische Gedichte, in denen das Leben in einem autoritären Staat Thema ist, oder Wichner setzt sich mit rumänischen Autoren wie Gellu Naum auseinander oder mit rumäniendeutschen Dichtern, allen voran Oskar Pastior, für dessen Gesamtwerk er als Herausgeber zuständig war. Manchmal verweist er sogar auf das Rumänische als Sprache selbst. So erfährt man beispielsweise ebenfalls im Nachwort, dass „Tzara“ eben nicht nur den Dadaisten diesen Namens meint, sondern lautlich auch dem rumänischen Wort für „Land“ ähnelt. Und doch fühlt man sich in diesen hin und wieder fremd anmutenden sprachlichen Räumen mancher Gedichte nur selten verloren, denn auch das ist ein wesentliches Merkmal dieser Sprache: sie holt einen doch immer wieder ab, selbst da, wo sich der semantische Kern nicht auf Anhieb erschließt. Wichner ist ein Meister der Neologismen und der Sprachspiele, und ein wahres Sprachfeuerwerk brennt er etwa in Vorgang 1 ab: „Aber die Außenseiter! Die Mäander, Buchteln / und Schluchzer. Die Wolkenmasseure, heim- / lichen Sinnverklumper und Verquaser, die // honigsüßen Hermeneuter.“

Daneben sind Wichners Gedichte häufig selbstreferentiell, und zwar so sehr, dass es etwa im Übergang von den Zeilen 16 und 17 von Ich dreh mir noch eine heißt: „ich stehe schon / sechzehn Zeilen tief in deiner Schuld“. Solche Selbstbezüglichkeit erwächst zunächst vielleicht aus einem spielerischen Umgang mit Sprache und Schreiben, überschreitet allerdings sehr bald die Grenzen des bloßen Spiels. Indem sich die Gedichte immer wieder spiegeln, der Vorgang des Schreibens selbst als körperlicher Akt ins Bewusstsein gerufen wird, werden immer wieder auch tiefere Bedeutungsebenen eingezogen, die Fragen nach dem Verhältnis von Wirklichkeit, Erleben und Schreiben aufwerfen. In der Selbstbezüglichkeit wird das Medium als Teil der Aussage immer auch mit thematisiert, spricht also nicht allein über Welt und Ich, sondern auch darüber, wie sie im Gedicht umgearbeitet werden. Dies führt letztlich dazu, dass sich die Gedichte nie zu sehr im Gefühl verlieren, dass sie nie kitschig oder sentimental sind. Häufig umkreist Wichner die eigene Vergangenheit, die ländliche Herkunft, doch sind die Gedichte, manchmal vielleicht schwermütig, nostalgisch aber nie. Die lyrische Auseinandersetzung ist eine bearbeitete Form der Erinnerung, nicht aber das selbst worüber sie spricht, und so heißt es ganz explizit gleich zu Beginn in Kleines Jahrhundert, vielleicht in Anlehnung René Magrittes „Ceci n’est pas une pipe“, „Dieser Tag war nicht / dieser Tag.“

Wichner versteht es immer wieder, die Texte einzufangen, wenn sie zu sehr davon zu schweben drohen, und sie im Alltag zu verankern. Gerade in den zahlreichen Gedichten, die von einer direkt angesprochenen nahestehenden Person handeln – man möchte sie vielleicht anstatt Liebesgedichte, weniger überschwänglich, lieber Du-Gedichte nennen –, kommen einerseits oft tiefe Gefühle zum Ausdruck, andererseits wirkt das alltäglich Banale der Gefahr des Übermäßigen entgegen. Am pointiertesten zeigt sich diese Wichner’sche Anti-Minne in dem mit der religiös anmutenden Überhöhung beginnenden Gedicht „Gepriesen war der Ort, die Stunde war gelobt, die Landschaft / hymnisch ausgemalt“, das aber recht bald wieder im allzu Irdischen ankommt: „man hatte Dresden angeboten, ein / Zimmer im Hotel, zu schmales Bett“.

Auch noch im Schönen und im Aufbruch schimmern in den meisten Gedichte Verfall und Vergänglichkeit durch, und das ganz unabhängig von ihrer Entstehungszeit, sodass man in dem Vers „im Wolkenschaum den Pilzbefall zu sehen“ aus Draht hielt Vater in der anderen Hand eine Art grundlegende Selbstbeschreibung auszumachen meint, denn nicht nur dort, wo es tatsächlich und ganz explizit um Krieg oder Tod geht, wie in Gras oder Fundstelle, sind Fäulnis, Verfall und Vergänglichkeit oft präsent. Dass Maden den umgekehrten Weg beschreitet und die titelgebenden Insektenlarven, eigentlich Inbegriff von Vergänglichkeit, positiv besetzt, sie als „weiß und hinüberfärbend / ins Rosa beinahe besonnt“ beschrieben und zum Ausdruck des wimmelnden Lebens umgedeutet werden, „ein Schieben ein Sich-Recken / als ob da ein Wille wäre ein Drang nach / mehr wie hinauf wie empor zum Himmel“, ist da eine umso größere Pointe, in diesen an Schlusspointen, Volten und Wendungen reichen Gedichten.

Ein wesentlicher Reiz von Wichners Lyrik liegt nicht zuletzt darin, dass sich in vielen Arbeiten einem sehr ausgeprägten Stil- und Formwillen nachspüren lässt, strukturellen Spiegelungen entlang von Symmetrieachsen in Mühlheim-City etwa, wo die unter 1 zusammengefasste Doppelstrophe zu Beginn in der abschließenden Doppelstrophe gespiegelt wird, und zwar so, dass aus dem über die Strophengrenzen zerrissenen Kompositum „Reiß-Grenze“ am Ende ein „Grenz-Riss“ wird. Und dieses zerreißende Experimentieren mit lyrischen Mitteln findet man auch im sich auf den Dadaisten Tristan Tzara berufenden Die alte Li und ihr Dichter, in dem die Zeilensprünge so eklatant die Wörter zerstückeln, dass der Text am Ende fast schon selbst zum dadaistischen Lautgedicht wird, während die Enjambements in Kleiner Tag den Eindruck eines in Scherben liegenden Lebens auch auf der Ebene der Stilmittel wiederholen. Darüber hinaus wird hier, wie auch in vielen anderen Gedichten, das Schriftbild selbst zur Aussage, denn der Blocksatz lässt das Gedicht als schmales Rechteck auf dem Weiß der Seite wie ein Grab erscheinen.

Auch wenn viele der Gedichte in der eigenen Herkunft, der Auseinandersetzung mit Autoren oder einzelnen biografischen Begebenheiten ihren Anfang haben, sind sie so reich und lässt sich an ihnen so vieles entdecken, dass sie sich im Biografischen keineswegs erschöpfen. Vor allem weil es Wichner versteht, auch formal, sprachlich und stilistisch poetische Bildräume zu erschaffen, denen es gelingt, Leserinnen auf ganz unterschiedlichen Ebenen anzusprechen. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein vielleicht tatsächlich stattgefundenes Treffen mit dem österreichischen Lyriker Gerald Bisinger mit einem blauen Delphin endet.

Titelbild

Ernest Wichner: Heute Mai und morgen du. Gedichte.
Mit einem Nachwort von Maren Jäger.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
288 Seiten, 26 EUR.
ISBN-13: 9783895612985

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