Vom Bau und Rückbau des Volksheims – Lena Anderssons Roman «Der gewöhnliche Mensch» schreibt ein Stück schwedischer Mentalitätsgeschichte

Der Begriff des «Volksheims» barg in Schweden das utopische Versprechen auf Wohlergehen, Gleichheit und Sicherheit. Mittlerweile wohnt ihm ein nostalgischer Zauber inne, denn heute laufen die Dinge aus dem Ruder. Das zeigt der neue Roman von Lena Andersson.

Aldo Keel 4 min
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Stockholm – die goldene Zeit der siebziger Jahre.

Stockholm – die goldene Zeit der siebziger Jahre.

Mit dem Liebesroman «Widerrechtliche Inbesitznahme» gelang Lena Andersson 2013 der Sprung in die Topliga der schwedischen Gegenwartsliteratur. Den Schlüssel zu ihrem neuen Roman liefert der Originaltitel: «Sveas Sohn. Eine Erzählung über das Volksheim». Mutter Svea ist Schwedens Nationalallegorie. Svea heisst auch die Mutter des Romanhelden Ragnar, der 1932 geboren wird, «im Jahr Null», als die Sozialdemokratie die Macht für fast ein halbes Jahrhundert erobert. Die Partei verabschiedete sich vom Marxismus und spielte die nationale Karte: Volksheim statt Klassenkampf. Das neue Schlagwort des legendären Ministerpräsidenten Per Albin Hansson gab dem aktiv intervenierenden Staat die patriotische Legitimation. Niemand sollte von einem andern abhängig sein, weder die Frau vom Mann noch der Greis von seinen Kindern oder der Student von den Eltern.

Mittlerweile ist die grosse Zeit des Volksheims passé, wie das schwedische Laissez-faire in der Corona-Politik zeigt. Anderssons Mutter Svea, Relikt der alten bäuerlichen Gesellschaft, hatte das Pech, «in einer Epoche jung gewesen zu sein, die die Alten verehrte, und alt zu sein in einer Epoche, die der Jugend huldigt». Heute, da die Zukunft düster erscheint, wohnt dem Begriff Volksheim ein nostalgischer Zauber inne. «Das moderne Volksheim», betitelte der Chef der nationalistischen Schwedendemokraten Jimmie Akesson 2018 ein Buch. Auch «Landesvater» Hanssons klassisches Volksheim war kein Ausländerparadies. «Schweden für die Schweden – die Schweden für Schweden», überschrieb er ein oft zitiertes Pamphlet.

Gedankenschwer und witzig

In ihrem gedankenschweren und dennoch witzigen Roman bietet Andersson ein Stück Mentalitätsgeschichte über drei Generationen hinweg. Mutter Svea hatte noch den Hunger kennengelernt. Ihr «Bündnis mit Gott glich dem, das Ragnar mit dem Staat eingegangen war». Wo Svea dem Prediger Lewi Pethrus anhing, den wir auch aus Per Olov Enquists Roman «Lewis Reise» kennen, ist Ragnar Parteigänger der Sozialdemokraten. Dem Sohn Erik, der ein T-Shirt mit der Aufschrift «Kafka hatte auch keinen Spass» trägt, schärft Ragnar ein, nicht Inspiration, sondern Disziplin überwinde Widerstände. Eriks Glaube an die eigene Intelligenz und Auserwähltheit führe ins Verderben.

Wie Mutter Svea trägt Ragnar, «der Schwede schlechthin», allegorische Züge. Schon der Schüler akzeptiert ein «Leben ohne das Streben nach Höherem» – wenn auch ein «juckendes Unbehagen» bleibt. Wer in der Schule mit der Menge verschmilzt, kann nichts falsch machen. Wer sich aber hervortut, wird mit Aufgaben betraut, die er nicht mehr bewältigt. Architekt wäre Ragnars Traumberuf. Aus Angst vor dem Absturz wird er Fachlehrer für Metall- und Holzverarbeitung, «ein Scheitern war unmöglich». Später lehnt er eine Beförderung ab, der Erfolgreiche drohe sich selbst zu verlieren. Hätte Greta Thunberg Ragnars Rezepte befolgt, gäbe es heute keine «Fridays for Future»-Bewegung. Der Roman endet denn auch um die Jahrhundertwende, vor dem Siegeszug der «neuen Medien».

«Von Grösse zu träumen, hiess, das Normale für untauglich zu erklären.» Ragnars Lebensweisheiten erinnern an Jante, jenen Ort, den der Däne Axel Sandemose im Roman «Ein Flüchtling kreuzt seine Spur» (1933) erfand. Sandemoses Jante-Gesetz, ein bekanntes, aber ambivalentes skandinavisches Narrativ, bietet einen Dekalog von Verhaltensnormen wie «Du sollst nicht glauben, dass du mehr wert bist als wir». Sandemose und Andersson blicken ironisch auf die Jante-Moral, während etwa die Automarke Volvo 2020 wirbt: «Jante hat uns gross gemacht.» Volvos Jante meint Teamwork, Zurückhaltung – das Gegenteil von Selbstbespiegelung und Prahlsucht.

Bandenkriege und Chaos in der Schule

Die Stockholmer Vorstadt, in der Ragnar mit seiner Familie ein Reihenhaus bewohnt, verändert sich in den sechziger und siebziger Jahren gründlich, als die Regierung ein Wahlkampfversprechen einlöst und eine Million Wohnungen baut. «Es war eine neue Epoche», und Ragnar «thronte in ihrer Mitte». Doch etliche Vorstädte mutierten zu Einwandererghettos, in denen sich muslimische, konservative Parallelgesellschaften entwickelten.

Mit der Bewältigung kultureller Unterschiede hatte das Volksheim seine liebe Not. Bandenkriege und Drogenhandel prägen heute das Bild der Vorstadt. Die Polizei zählte vergangenes Jahr 388 Schiessereien mit 61 Todesopfern. Auch in Ragnars Schule herrscht Chaos. Das Lehrerkollegium schreibt den Politikern, es sei unmöglich, in Klassenräumen zu unterrichten, in denen Kindern von Analphabeten die gleichen Möglichkeiten geboten werden sollen, die Lernziele zu erreichen, wie Kindern schwedischer Eltern. Hierauf warnen die ratlosen Behörden die Lehrer vor fremdenfeindlichen Tönen.

Da das wohlgeordnete Volksheim nur noch Erinnerung ist, droht Ragnar jeder sinnstiftende Zusammenhang abhandenzukommen. Er erlebt, wie seine Gesellschaft, die auf Fleiss und Rationalität baute, den Glauben an sich selbst verliert, und verkörpert somit jene Enttäuschung, die auch Wähler der Schwedendemokraten umzutreiben scheint.

Und Mutter Svea? Sie stirbt auf der letzten Seite des Romans. Ihr letztes Wort: «Letztendlich ging es uns sehr gut. Uns hätte es nicht besser gehen können.»

Lena Andersson: Der gewöhnliche Mensch. Roman. Aus dem Schwedischen von Antje Rávik Strubel. Luchterhand-Literaturverlag, München 2022. 284 S., Fr. 36.90.

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