Ein Strich

 

Er geht mir gelegentlich durch den Kopf. Dieser Strich, der nie gezeichnet wurde. Ich male ihn mir horizontal aus, mit einem Schwung, der aber subtile Spuren des Zögerns in sich hat. Ein Strich, der nicht so daher gezeichnet ist, sondern der einer ans Zeichnen gewohnten Hand entspringt, die zudem jemanden gehört, der eine Haltung hat. Eine Haltung an sich, aber auch eine Haltung zu diesem Strich. Manchmal, wenn ich eine leere Seite sehe und darin verweile, holt mich dieser bestimmte Strich ein. Er zeichnet sich dann auf die leere Seite. Ich denke über ihn nach, während er sich durch die leere Seite zur oberen Kante zieht. Ich werde missmutig, wenn ich einen solchen Strich irgendwo entdecke, auf einem Kunstwerk zum Beispiel oder an einer rissigen Mauer, an der ich zufällig vorbeikomme. Dann muss ich an meinen Strich denken, denjenigen, der hätte sein können, der aber nie gezeichnet wurde und der mein Strich gewesen wäre. Ich war nah dran. Damals, als ich für das Buch verantwortlich war und wir im Lektorat über die Umschläge stritten. Wir waren zu dritt und jeder hatte einen anderen Favoriten. So kamen wir nicht weiter. Ich war fest überzeugt, dass ein Strich als Motiv perfekt sein würde, aber ich verbalisierte diesen Vorschlag nicht. Zu albern. Zu einfach. Zu sehr einer Erklärungskette geschuldet. Wir waren schließlich alle souverän. Es galt, mit allen Mitteln unsere eigenen Vorlieben zurückzuhalten und darum, einen objektiven, professionellen Abstand zu wahren. Es ging um das erfolgsversprechende Buch, um die breite Leserschaft, um den zartbesaiteten Autor, vielleicht um den Verlag als Unternehmen, aber nie sollte es um uns selbst gehen. Möglicherweise war mir unbewusst klar, dass mein Strich dem Buchinhalt hätte standhalten müssen oder umgekehrt: der Inhalt dem Strich. Ich dachte nach. So objektiv es nur ging. Ich verglich den Strich mit dem Text und ich verlor mich in Kriterien, die zu allen Seiten ausscherten. Ich schwankte hin und her zwischen Für und Wider und rang mit der Antwort, warum ein Strich so viele Emotionen in mir auszulösen vermochte. Ich musste an G. denken, der diesen Strich hätte zeichnen sollen. Er oder sonst keiner. Er würde mich sofort verstehen, wenn ich gesagt hätte: Du, da wäre noch eine Sache mit einem Strich. Es geht darum, dass du ihn mir bitte zeichnest. Ein Strich muss es sein, ansonsten hast du alle künstlerischen Freiheiten. Ich traute mich nicht, aus welchen Gründen auch immer. Die Zeit zog geschwind an unserem hektischen Lektorat vorbei. Wir einigten uns schließlich vermeintlich einstimmig auf ein Buchcover, das nichts mit einem Strich gemein hatte. Es sollte ein Umschlag mit einem floralen Design werden. Meine jüngere Kollegin wollte noch ein neckisches Katzenohrpaar auf dem Buchrücken durchsetzen wegen der einen Katzengeschichte im Buch, die ihr so gefallen hatte und die bereits rezensiert war. Ich war gegen die Katzenohren und argumentierte zunächst damit, dass die Katzengeschichte mit den Ohren darin doch bloß eine Metapher war für etwas ganz anderes. Doch das stimmte gar nicht. Es waren tatsächlich Katzenohren gemeint gewesen, genau genommen handelte es sich um rötliche Katzenohren und es war etwas kindisch von mir, mit diesem erotischen Hintergrundhumbug daherzukommen und meine Kollegin mit meiner intellektuell und höchst komplizierten Art irrezuleiten. Aber nachdem die Metapher-Sache vom Tisch war und ich log, dass ich das nun mal so gelesen hatte und wir den Lesern die Freiheit lassen sollten es ebenso zu tun, da begann die Kollegin erneut auf den Katzenohren aufzubauen und diese noch mehr zu verteidigen. Ich sah schließlich keine andere Möglichkeit als die, unfair zu werden. Ich habe die Kollegin zugegebenermaßen beleidigt und das Manuskript auf den Tisch geknallt. Und alle Katzen gleich mit. Beim Autor hielt ich mich zurück. Am Ende gab es keine Katzenohren. Ich bestand darauf, während ich schon in der Tür stand, und so beendeten wir dann auch das Gespräch. Statt Auf Wiedersehen, meinte sie: Keine Katzenohren. Ich erwiderte mit Bestimmtheit: Keine Katzenohren. Es gab nichts zu lachen an diesem Abend, so wie es auch keinen Strich gab im Buch. Wie schön wäre es, wenn G. da gewesen wäre. Die ganze Diskussion, Satz für Satz, Argument um Argument hätte mit G. nichts als eine Albernheit bedeutet. Mit jedem neuen Wort würden wir das Gespräch ins Kolorit der ironischen Welt einfärben, bis alles nur noch eine Groteske, Dada gewesen wäre. Ich hatte G. zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr gesehen. Doch wegen dem Strich alleine wollte ich ihn nicht aufbieten. Ich konnte ihm außerdem kein Honorar für den Strich zahlen und damit tröstete ich mich. Es wäre ein reiner Freundschaftsstrich gewesen. Mehr nicht. Ich hätte G. nicht viel erklären müssen, aber ihn anrufen, nur des Strichs wegen? Das war G. nicht würdig. Ich sah ihn selten genug. Ein Strich von G. jedoch, das wäre allemal etwas ganz Besonderes gewesen, das denke ich gerade heute. Ich hätte es mit seinem Strich gehalten wie mit jedem anderen beliebigen Buchumschlag: Keine unnötigen Worte verlieren, auf der Umschlagsinnenseite den Standardhinweis anbringen: „Umschlaggestaltung mit einer Zeichnung von G.K. Genehmigung durch den Künstler erhalten. Die Abdruckrechte verbleiben beim Künstler. Alle Rechte vorbehalten.“ Ich hätte ihn nicht namentlich erwähnt, außer wenn G. darauf bestanden hätte. Das wollte er aber bestimmt nicht. Ich hatte nicht im Sinn G. etwa auf diesen Strich zu reduzieren und wollte ihm in seinen künstlerischen Bestrebungen wörtlich keinen Strich durch seine Rechnungen machen. G. war schon damals größer als so ein läppischer Strich in einem Kleinverlag, welcher sich auf literarische Nischen spezialisiert hatte und dessen Autoren eher in Vergessenheit, denn in die Geschichte eingehen würden. G. weiß bis heute nichts von meinem, respektive von seinem Strich und auch nicht, dass ich damals bereits feinstes Büttenpapier gekauft hatte. Selbst die schwarze Tusche lag mit Pinsel bereit, sollte sich G. spontan zu Besuch anmelden. Darauf habe ich insgeheim gehofft und unbewusst wohl gewartet, dass G. plötzlich vor meiner Türe stehen würde mit einer Flasche Wein in der Hand. Schief würde er da stehen wie es seine Art ist und mit dieser gespielten Verlegenheit, die dennoch so authentisch daherkommt, dass es mich stets von Neuem fasziniert, wenn er so schief dasteht und einen mustert. Wochenlang lag das Papier, der dunkle Tuschbehälter, der rötliche Pinsel auf einem ovalen, japanischen Lackteller drapiert wie ein Stillleben. Das Ensemble regte sich gelegentlich und malte einen imaginären Strich durch meine Gedanken. Ich wachte auf und sah den Strich, ich ging zu Bett mit dem Strich. Beinah war der Strich fast schon Realität und ich lebte gut mit ihm. Durch Zufall lernte ich in jener Zeit obendrein eine Künstlerin kennen, die sich auf Strichzeichnungen spezialisiert hatte. Sie malte als Dankbarkeit für jeden Tag, an dem sie aufwachte, just einen solchen Strich auf ihren langen braunen Papierbogen. Sie malte ihn seit vier Jahren und die Grazie der innig gezeichneten Linien war entrückend schön. Man musste sich zurückhalten, ja nicht zu viel zu fragen, um den Fluss ihres Werks nicht zu stören. Sie um einen Strich zu bitten, hätte auf der Hand gelegen, könnte man meinen, doch im Grunde genommen war es das Gegenteil. Es wäre nichts als plump gewesen sie anzusprechen. Das hätte nicht funktioniert. Ich bin ja keine hölzerne Person, die eine sensible junge Künstlerin mit einer Anfrage aus ihrem künstlerischen Konzept hätte bringen wollen. Mir war schon durch die Art wie sie auf ihren marokkanischen Pantoletten lief, die aussahen wie längliche Peperoni, und wie sie sich die Haare aus dem Gesicht strich, aufgefallen, wie feinsinnig sie sein musste und wie sie an jedem einzelnen Wort von mir hing, wenn ich mit ihr sprach. Wohl genauso wie sie sich an jeden ihrer einzelnen Striche klammerte wie an dünnen Fäden, die sie im Innern zusammenzuhalten schienen und ihr die Ausstrahlung einer Marionette aus Porzellan verliehen. Nein, diese blasse Künstlerin hätte zu viele, zu offene Fragen zum Strich gestellt. Hätte sie am Ende einen Strich geliefert, er wäre nicht über einen Auftragsstrich hinaus gegangen. Und ich wäre enttäuscht, weil ich ja eh wüsste, dass Wesen wie sie nicht Nein sagten, wenn man ihnen einen Pinsel anvertraute. Zudem hätte dieser eine Strich alle ihre bisherigen und kommenden Striche in ein verhängnisvolles Ungleichgewicht gebracht, war die Motivation hier doch eine äußere und ohne jegliche Verbindung zu ihren eigenen Arbeiten. Mir wäre das Herz gebrochen, hätte ich dermaßen in ein kontinuierliches Oeuvre eingegriffen, bloß um einen Strich zu ergattern, der mir da vage in meiner Vorstellung vorschwebte. Hätte ich stattdessen selbst einen Strich malen sollen? Vielleicht. Ich kokettierte lange damit, jedoch nur für mich. Ich hatte Mühe mich dabei ernst zu nehmen und den Strich erst recht. Ich hätte wahrscheinlich dreißig, fünfzig Striche zeichnen müssen, so am Sonntag bei Regenwetter beispielsweise. Aber keiner von ihnen hätte mir gefallen. Auch ohne die gezeichneten Striche, sah ich schon die Gesichter aus dem Lektorat vor mir und wie sie Grimassen schneiden würden, hätte ich sie eines Tages mit meinen Strichen konfrontiert und sie aufgefordert den allerbesten aus den fünfzig Strichen auszuwählen. Auf dem großen Tisch im Besprechungszimmer hätte es genau für zweiundvierzig Bögen DIN A4 Seiten Platz gehabt, das habe ich mal ausgerechnet, beziehungsweise mit leeren Blättern ausprobiert. Wir wären so vorgegangen wie immer: zunächst alles entnehmen, was nicht gut ist, bis wir eine Anzahl hätten, die überschaubar gewesen wäre. Über diesen letzten Strichen hätten wir sehr lange gebrütet und am allerlängsten verweilten wir bei den letzten drei. Wir hätten drei Striche, drei Argumente und eine Unzahl von Fragen, vermischt mit einem Grundgefühl des Unverständnisses. Nein, meine Glaubwürdigkeit wollte ich mir durch einen kapriziösen Strich und einem, der mir niemals gefallen würde, weil er von mir und nicht von G. sein würde, nicht aufs Spiel setzen. Als das Buch gerade in Druck war, sah ich G. nach langer Zeit wieder. Wehmütig war das für mich, und nichts von dieser kleinen Melancholie drang bis zu G. hindurch. Er erzählte an diesem Abend viel. Es ginge mit ihm aufwärts und er lächelte oft in sich hinein. Mehrere größere Anfragen, erste Museumsankäufe seiner Werke. Ich staunte sehr und freute mich für ihn und die institutionelle Anerkennung. Aber irgendwie war ich sauer und fühlte mich betrogen. Nicht von G. selbst, aber von diesen Leuten, die so ambitiös an seiner Karriere schraubten. G. war niemals von sich aus derart ehrgeizig wie sich seine Geschichten anhörten. Das war nicht stimmig für mich. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn wir zu diesem Zeitpunkt den Strich schon hinter uns gehabt hätten, dachte ich, während G. erzählte und die Höhepunkte sich immer mehr überschlugen. Ich war an diesem Abend nicht zu beeindrucken. Denn ich war in meinen Gedanken bei meinem Strich. Hätte ich ihn schon gehabt, von G. gezeichnet, er wäre jetzt nicht mehr der Rede wert gewesen und ich hätte mich frei mit G. unterhalten können. Ein Strich, der in die Vergangenheit gehörte und der existent war, so wie ich hätte in der Gegenwart zugegen sein können bei G. Was er wohl sonst alles gesagt hatte an diesem Abend? Ich schweifte ständig ab zum Strich. Ich dachte daran, wie schön es wäre ich hätte diesen, G.‘s Strich bereits, dann würde ich bereits bestens mit diesem Strich leben und dank ihm ein neues kleines Kapitel aufschlagen können: Der Strich und ich. Das dachte ich und G. plauderte unbeirrt weiter. Ich hätte G. erzählen können wie sich der Strich entwickelte und wie es sich mit seiner Existenz so lebte. Wäre der Strich da, dann hieße das auch, ich hätte mich durchgesetzt. Eine Flause von mir wäre zu einer Idee herangereift. Sie wäre sodann zur Wirklichkeit avanciert und hätte über meine Eitelkeit gesiegt. Der Strich hätte Erfolg verheißen und ein Mythos werden können. Oder vielleicht eine Aussage, ein Statement. Er wäre Teil von mir und ich würde G. deswegen nie mehr anzugehen brauchen. Stattdessen würde ich eine schelmische Freude gegenüber allen Neugierigen entwickeln können, wenn sie mehr hätten wissen wollen: Dieser Strich auf dem Umschlag? Ach, das interessiert Sie wirklich? Zu dumm, aber das ist eine lange Geschichte und die Zeit reicht heute leider nicht mehr. Vielleicht aber ein andermal? Soviel sei jedenfalls gesagt: Es hat den Strich ein großer Künstler gemalt. Ich beschloss meinen Strich zu kompensieren durch viele Striche. Zunächst als Striche auf Mauern. Ich sah immer mehr davon, je mehr ich mich auf sie achtete. Die Striche verfolgten mich. Ich begann sie zu fotografieren, wollte ich doch diesen einen extraordinären Strich finden, der perfekt sein würde und sich über alle anderen Striche erheben sollte. Es wurden jedoch zu viele, ohne, dass ich fündig wurde. Kein Strich stellte mich zufrieden. Und die Unzahl nahm mir den Atem. Im Winter, als das Licht schlechter wurde, die Striche nicht mehr wie Striche, sondern wie Risse aussahen, die sie nun mal waren, verloren sie ihre Wirkung ganz. Ich brach ab. Ich dachte mich geheilt. Doch dann holten sie mich wieder ein und ich beschloss die Striche von anderen zeichnen zu lassen. Es wurden Striche, die meine Gäste umzusetzen hatten. Als wortlosen Eintrag in meinem Gästebuch, das nun eine Leinwand war. Ich dachte wohl, wenn ich schon G.’s Strich nicht haben konnte und wenn meine Mauerstriche nicht wirken wollten, dann sollten mich wenigstens die Striche meiner Freunde für meinen unerfüllt gebliebenen Wunsch entschädigen. Mit großer Zuversicht kaufte ich eine bestens aufgespannte, naturalistische Leinwand, in der sich schöne Stoffknötchen vorfanden. Ich sah schon die Striche über diese Knötchen wandern und wie sie spielerisch miteinander interagierten. Ich wollte es meinen Gästen leicht machen und ich sagte nicht viel, als ich ihnen die Leinwand reichte. Mal mir bitte einen horizontalen Strich, von links begonnen und nacheinander. Worum es geht? Mal mir einfach einen Strich, dann verrate ich es dir. Einen Strich soll ich? Was meinst du mit Strich? Die Leute stellten höchst blöde Fragen. Ich blieb hartnäckig wortkarg und ermutigte sie zu malen und zu schweigen. Ich machte es ihnen einfach, weil die Leinwand doch so schön war und der Stift, den ich wählte, sich haptisch gut anfühlte in der Hand. Vielleicht zu gut. Vielleicht war er zu nah an gewöhnlichen Kugelschreibern dran, die jeder fast täglich in der Hand hielt und die er ohne Hemmungen benutzte, ja, als wertlosen Alltagsgegenstand ohne jegliche Distanz ansehen musste. Ich denke manchmal, ich hätte es ihnen hinderlicher machen sollen mit einem Material, mit dem sich meine Gäste innerhalb ihrer zeichnerischen Tätigkeit nicht hätten so rasch anfreunden können. Vielleicht wären Striche entstanden, die zittrig, aber bedacht gewesen wären oder solche, in denen die Angst vor dem Scheitern sichtbar sein würde, da sie ja so nah zugegen gewesen wäre und diese Achtung bis in den Strich hineinwirkte. Authentizität durch die Reinheit, die der mit Respekt erfüllte Augenblick gebiert. Vielleicht hätte ich meine Karten auf den Tisch legen und erstmals von meiner besonderen Verbundenheit zu Strichen erzählen sollen. Verständnis aufbauen. Mich erst entblößen, bevor ich etwas forderte. Erst geben, dann nehmen. Aber mir war zugleich allzu klar, dass ich einen ganz reinen Strich wollte, einen, der frei von äußeren Beeinflussungen war. Denn ein Strich, welchen man in einer anderen Intention oder aus anderer Motivation heraus zeichnet, ist nicht mehr der Strich, den man zeichnet, wenn man ihn einfach nur als reinen Strich fertigt. Es ist kein existenzieller Strich mehr, wenn man eine Geschichte in ihn legt, die über den Strich hinausgeht, sich nicht aber aus ihm selbst ergibt. Das würde man unter Umständen nicht mit dem bloßen Auge sehen beim Resultat, aber ich bin mir gewiss, man würde einen solchen Strich anders wahrnehmen. Auf alle Fälle hätte ich mir selbst hier nichts vormachen können. Ich war auf wahrhaftige Striche aus. Meine Gäste sahen das anders. Die ersten drei hielten sich an meine Vorgabe und zeichneten bescheiden und brav ihren Strich. Ich war zufrieden und erzählte im Anschluss nicht etwa von G., geschweige denn von der Künstlerin, sondern davon, dass dies schlichtweg mein neues Gästebuch war. Mehr mochte ich nicht erklären. Beim vierten Strich geschah etwas. Ich hätte es voraussehen müssen, als mein Gast wiederholt nachfragte: Einen Strich? Also ich darf einen Strich zeichnen, ja? So wie ich ihn sehe, ja? Ich ließ ihn alleine und als ich zurückkam, fand ich einen Strich vor, an dem sich mein Gast offensichtlich regelrecht ausgetobt hatte. Ich mag an dieser Stelle das Wort künstlerisch nicht in den Mund nehmen. Sagen wir so: er hat sich ausgedrückt und den Strich mit Ornamenten und Verzierungen versehen, sodass mir fast die Tränen kamen. Ich musste es jedoch erdulden und um nicht übelgelaunt zu werden, entschied ich mich für Mitleid. Diese arme Kreatur, ansonsten wenig schöpferisch in ihrem Leben, wusste es offenbar nicht besser, als sich auf meiner Leinwand besonders ausgelassen zu verewigen und höchst verschwenderisch Phantasiezierrat in die Zeichnung und in den zeichnerischen Akt zu legen. Mir war nicht bewusst, dass dieser erste unsagbar einfallsreiche Strich eine neue Vorgabe sein würde, eine Art Messlatte und sich meine folgenden Gäste in ihrer Ausdruckskraft fortan nur noch an diesem Strich abarbeiten und vorhatten, ihn mittels ihrer absonderlichen Einfälle zu übertreffen. Keiner wollte sich mehr mit einem genügsamen Strich zufriedengeben. Ein Strich? Ich bin doch kein Kind mehr, ich kann da schon etwas mehr bieten! Na warte nur! Und was mein Vorgängerkollege hier geboten hat, das geht allemal besser! Ich konnte diese kuriosen Krakeleien, in denen ein Strich in meiner Wahrnehmung gar nicht mehr stattfand, nicht mehr ertragen und stellte meinen Versuch ein mit der Erkenntnis, dass die Striche mehr über meine Gäste erzählten als ich hören wollte. Mir wurde bewusst wie wenig Durchsetzungskraft ich in das Wort Strich zu legen imstande war. Mein Strich betrog mich, so wie ihn meine Gäste hintergingen. Denn jede neue Stümperei auf meiner Leinwand hatte die Wirkung eines Radiergummis, hinter der mein distinguierter Strich Stück für Stück verschwand. Ich lernte zudem, dass mein ästhetischer Anspruch an einen Strich und eine freundliche Ansage nicht genügten und vor allem nicht vereinbar waren mit der Lust eines Individuums, das insgeheim auf einen kreativen Impuls nur so lauert, und der sich dann unvermittelt und ungestüm entlädt, wenn man ihm einen Stift in die Hand drückt und sagt: Einen Strich bitte.

 

 

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Der Faden im Kopf, Aufsätze und Reflexionen von Joanna Lisiak, 2018, mit Illustrationen von Barbara Balzan 236 Seiten, isbn 978-3-74816-716-7

Umschlag: «Unter freiem Himmel», 2018, von Mariola Lisiak

Weiterführend →

Holger Benkel schrieb einen Rezensionsessay über „Der Faden im Kopf„. Lesenswert ist gleichfalls das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.