Von einem, der gelernt hat, Kühe zu melken

Werner Herzog stellt sich in „Jeder für sich und Gott gegen alle“ dem Furor der Erinnerungen

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1942 geborene Autor, Filmemacher und Opernregisseur Werner Herzog muss ein Problemkind gewesen sein, charakterisiert er sich doch selbst als ewig Aufständischen, „zum Jähzorn neigend, in gewisser Weise gefährlich für meine Umgebung.“ Wie so viele ohne väterliche Führung aufgewachsen, erlebte er die Nachkriegszeit als „einen Zustand der Anarchie.“ Oft wurden er und sein älterer Bruder von der alleinerziehenden Mutter einfach vor die Türe des kleinen Austragshäusl im oberbayerischen Sachrang gesetzt, damit sie sich auf den umliegenden Almen an die Kälte gewöhnten, um mit bloßen Füßen Trägerdienste leisten zu können. Nebenbei bastelten die Buben aus weggeworfener Wehrmachtsmunition Sprengkörper zum Spielen. Das erste Lebensjahrzehnt verbrachte Herzog in dem „abgelegensten aller Orte in  Bayern“, hungernd und trotz eines großbürgerlichen Hintergrunds in bitterer Armut, ohne fließendes Wasser und ärztliche Versorgung. Allerdings riefen die beschränkten Verhältnisse eine fast unstillbare Neugierde danach hervor, über die Enge des Tales hinauszublicken und später dann über alle Hindernisse hinweg vorzustoßen in Regionen, die die meisten fluchtartig verlassen hätten. Selbst Gesetze oder gar Naturgesetze sollten keine Hindernisse bieten, wenn es galt, Unbekanntes zu erforschen und zu enträtseln.

In eben diesem Gebirgsdorf Sachrang stürzt ein gewaltiger Wasserfall über die Felsen und zerspringt in unzähligen Wassertropfen in einem See. So ähnlich, nämlich wie ein Sturzbach, erlebt der Leser die hier vorliegenden Memoiren des weltbekannten Regisseurs. Kein abgewogenes, wohlsortiertes Erinnern, vielmehr löst fast jeder Satz eine Bilderflut aus, die sich ungehemmt in die Weiten des Erinnerns ausbreitet. Nicht nur alle Filme werden irgendwann genannt und erzählerisch umkreist, auch nicht realisierte Projekte kommen ausführlich zur Sprache oder in welchem Film Herzog nur in einer Nebenrolle aufgetreten ist. Erwartungsgemäß finden die wichtigsten Bekanntschaften Erwähnung und natürlich die prägenden Ereignisse eines langen Lebens, die zuweilen doch einiges Erstaunen hervorrufen dürften. So doziert Herzog unter anderem über seinen privaten Katholizismus, die Geheimnisse der Mathematik, über noch nicht entschlüsselte Schriftsprachen, das Hypnotisieren anderer oder über seine eigene Fähigkeit, einer Person sofort anzusehen, ob diese, wie er selber, Kühe melken kann. Das Filmen habe er innerhalb weniger Wochen und ohne Vorbilder gelernt, ganz aus sich selbst heraus. Aus Unkenntnis des Films habe er so das Kino neu erfunden. Herzogs enormes Selbstbewusstsein überdeckt damit fast seine tatsächlichen Leistungen für das Kino.

Herzog sieht seine Existenz im Zeichen großer Umbrüche. Bildliche Eindrücke bestimmen sein Leben, angefangen mit der brennenden Stadt Rosenheim, die die Mutter dem gerade Dreijährigen in der Ferne zeigt. Die Welt erschließt sich ihm durch das Kameraauge. Als Global Player durchstreift er die Kontinente, jedoch nicht auf angesagten Traumschiffrouten, und anders als seine Kollegen vom Neuen deutschen Film interessieren ihn nicht die sozialen Dramen des Alltags, sondern das Außergewöhnliche, Gefahrvolle. Für einen Film begibt er sich in eisige Höhen, Todes- und Kampfzonen, unter Kindersoldaten und Guerilleros. „Die Aufnahmen sollten sich zu einer Story zusammensetzen, fast wie von selbst.“ Wenn man ihm glauben darf, und angesichts seiner Filme besteht daran kaum ein Zweifel, ist er bei seinen Unternehmungen oft gerade so dem Tode entronnen. Das gilt natürlich auch für seine Protagonisten. Wer nun wen mit einer geladenen Waffe bedroht hat, bleibt etwa im Fall Klaus Kinski offen, was schon der ambivalente Filmtitel „Geliebter Feind“ andeutet. Herzogs Faible für das Gehen, eigentlich das Aufbrechen ohne Gepäck, führt ihn, wie bekannt, zu Lotte Eisner nach Paris (Vom Gehen im Eis, München 1978), um halb Deutschland herum und naturgemäß zu dem großen Wanderer Bruce Chatwin, den er bis zu dessen frühen Tod begleitet. Die beiden Männer verbindet die Vorstellung vom sakralen Charakter des Gehens.

Wenn Herzog hier die Summe seines Lebens zieht, so ist es kaum verwunderlich, dass er in den meisten seiner Filmhelden auch sich selbst begegnet. Dieser Hang zur Selbstdarstellung deutet sich schon in den etwas kuriosen Vorbildern an, haben sie doch alle das schier Unmögliche gewagt, Künstler (Hercules Seghers, Carlo Gesualdo), die ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus waren, Hannibal, der den Angriff auf Rom mit Elefanten und dem Übergang über die winterlichen Alpen wagte, oder der Siegel Hans, ein berüchtigter Schmuggler und Wilddieb aus den bayerischen Bergen. Der Wüterich Kinski, der in seinen Filmrollen als Aguirre, Fitzgeraldo, Woyzek oder Nosferatu die Grenzen zum Wahnsinn zu überschreiten scheint, oder Reinhold Messner, der den Wettlauf auf immer höhere Berge (Gasherbrum – Der leuchtende Berg) als solchen beschreibt. Größere Tiefenbohrungen sollte man allerdings nicht erwarten. Die Psychoanalyse lehnt Herzog vehement ab und verweist auf die Oberfläche der Bilder und die Rätsel, die dort aufscheinen. Farbig gelingen ihm die Ausflüge in die komplizierten Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse mit ihren Ecken und Kanten, etwa die frühe Nazibegeisterung der Eltern. Auffallend ist, dass der zum Weltstar avancierte Herzog vor allem in den USA heute bekannter ist als in seinem Heimatland, wo seine überaus zahlreichen, fast im Jahresrhythmus entstehenden Dokumentarfilme nur selten zu sehen sind. Herzog neigt zu apodiktischen Urteilen, oft, ohne sie nachvollziehbar zu begründen, etwa: „Ich halte das 20. Jahrhundert in seiner Gesamtheit für einen Fehler.“ Indem er viele seiner Aussagen mit einem rhetorischen Schlenker relativiert, erweist er sich, wie seine Filmhelden, als ein Romantiker mit der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren.

Damit komme ich zum kritischen Teil dieser Rezension. Natürlich wird man sich als Rezensent noch einmal all die Filme Herzogs anschauen, die auf YouTube zu sehen sind. Dabei kann man feststellen, dass Herzog viele Passagen des Buches, oft in wörtlicher Wiedergabe, bereits in seinen zahlreichen Statements geäußert hat. Auch umfangreiche Stellen aus den Tagebüchern sind schon anderenorts veröffentlicht worden. So ergibt sich das Bild einer Mehrfachverwertung, einer Endlosschleife, wie sie auch in dem gerade erschienenen Dokumentarfilm von Thomas von Steinaecker „Werner Herzog. Radical Dreamer“ zu beobachten ist. Tatsächlich zerfasert der Text, der stellenweise eher wie ein mündliches Diktat wirkt, im letzten Teil so, als habe den Autor die Ruhe und Konzentration verlassen. Er besitze „nur wenige Freunde“, behauptet er, um dann eine seitenlange Liste von Freunden und Mitarbeitern vorzulegen, denen er vieles verdankt. Aufgezählt werden bizarre und zum Glück nicht realisierte Vorhaben: „Ich wollte Hamlet unter eine Aufführungszeit von vierzehn Minuten herunterbringen.“ Ein weiteres: „Ich wollte mit Mike Tyson einen Film über frühe fränkische Könige drehen“ beschreibt er so ausführlich, bis man glaubt, dass ihm dies gelingen könnte. Obwohl er beteuert, dass ihm jede Selbstbespiegelung zuwider sei, erfährt man immerhin so Weltbewegendes, dass er „lesen nur im Liegen kann.“ Kaum überraschend fließt in die Weisheiten eines alten Mannes viel düstere Zeitkritik ein. Naturgemäß hasst er, der mittlerweile in Kalifornien lebt und es zu einer eigenen Rolle in den Simpsons und zu einer markanten Bühnenstimme (Amerikanisch mit deutschem Akzent) gebracht hat, den Mainstream und prophezeit in einer Art Altersalarmismus eine Zeit der Sprach- und Bilderlosigkeit. Nicht selten gerät er über die „fundamentalen Fragen unserer Identität“ ins Schwadronieren. Vielleicht hätte er es einfach bei seinen faszinierenden Filmbildern belassen sollen, welche die Natur ganz unromantisch wiedergeben, weil man sie nicht inszenieren kann. Auf typisch Herzog´sche Weise enden denn auch die Erinnerungen ohne abschließenden Punkt und mit der Möglichkeitsformel: „…als wäre“. Na denn, möchte man ihm zurufen.

Titelbild

Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen.
Carl Hanser Verlag, München 2022.
352 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446273993

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch