Vom allseits beschädigten Leben oder Erzählen mit weit geschlossenem Mund

Die anspornend irritierende Erzählung „Der Übergriff“ (2001) von Ursula Krechel liegt in einer Neubearbeitung vor

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ursula Krechels Der Übergriff wird trotz eines romanhaften Umfangs zu Recht als „Erzählung“ bezeichnet, kreist der Text doch um das zentrale Motiv einer die Ich-Erzählerin ab einem gewissen Zeitpunkt nahezu unablässig zunächst mit „Halt’s Maul“, später mit „Sätze[n]“ und „Angriffe[n]“ einschüchternden, ja bis zum Verstummen züchtigenden „Stimme neben mir“. Meine eigene Stimme stand nicht zur Verfügung“, heißt es an einer Stelle, und „[e]s fällt mir schwer, den Mund zu halten, aber es fällt mir auch schwer, etwas aus meinem Mund zu lassen, wovon ich derart überzeugt bin, dass ich es unbedingt mitteilen will“, an einer anderen.

Noch angemessener wäre es freilich, statt von Erzählung in Übereinstimmung mit dem fachlichen wie dem umgangssprachlichen Gebrauch des Begriffs von Dichtung zu sprechen. Dichtung nämlich ist der Text insofern, als es sich um eine hoch konzentrierte, ebenso vielgestaltige wie gehaltreiche Fülle an Beobachtungen, Empfindungen, Erinnerungen, Mutmaßungen, Erwägungen, Grübeleien, Reflexionen, Urteilen, Bekenntnissen, Phantasien, Träumen und dergleichen mehr handelt. Diese Fülle wird obendrein in kunstvoll stilisierter und immer wieder „aufwendig“ um verblüffende Bilder angereicherter Alltagsprosa offeriert.

Doch keine Sorge, in dieser Erzählung, die der Ich-Erzählerin nach ein „Bericht“, eine „Zeugenaussage“, eine „Klage“ freilich „unter Einfluss“ jener angesprochenen „Stimme“ ist, geschieht auch dieses oder jenes von, in wortwörtlicher Lesart, mehrheitlich eher minderem als von großem Gewicht. Und es gibt Figuren – es sind nicht allzu viele, allesamt sind sie auf ihre Art Versehrte, Scheinlebendige, Abziehbilder oder Klone –, die sich veranlasst sehen, Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Zu dieser damit äußerlich als eher dürr angedeuteten, doch kontextualisiert welthaltig aufgeladenen Fabel gleich mehr.

Der zuweilen ans Skurrile und Phantastische streifende und u. a. an Katherine Mansfield, an Kafka und an den magischen Realismus erinnernde Text will mit aller Aufmerksamkeit betrachtet, Wendung für Wendung und Aussage für Aussage gelesen, Akzentuierung für Akzentuierung bedacht, ein ums andere Mal durchmessen und kulturell verortet und in mehr als nur einem Anlauf erwogen werden. Sich auf Der Übergriff einzulassen sollte von daher der Selbstverpflichtung gleichkommen, einer Stimme ‚neben uns‘, die sich hinter den häufig „unschuldig[]“ erscheinenden Sätzen verborgen zu halten scheint, und insbesondere deren „Lies noch einmal“ und „Lies genauer“ ohne Widerrede, ja dankbar Folge zu leisten.

So verfahrend, stellt man sich und dem im Detail wie in übergeordneten Belangen in besonderer Weise bedeutungsoffenen, dem damit gehaltlich allerdings weder unbestimmten noch beliebig anzufütternden Text dennoch ein Bein, falls als Ergebnis all dieser Bemühungen so etwas wie eine lückenlose und in sich widerspruchsfreie Auslegung ohne jedes Verwunderung, Zweifel oder Ratlosigkeit signalisierende Fragezeichen angestrebt werden sollte.

Von diesem Beinstellen zeugen nicht zuletzt etliche das Bild einer interpretatorischen Einbahnstraße evozierende Rezeptionsdokumente aus Vergangenheit und Gegenwart. Die geben beispielsweise unter stillschweigender Überblendung des Textes mit dominant gesetztem weltanschaulichem Eigenblut so ziemlich genauso zu wissen vor, wie man die dann allerdings zu einem verkappten pamphletistischen Sachtext verschnittene Erzählung zu verstehen habe. Besagte „Stimme“ kann dann beispielsweise selbstverständlich nur die eines per se Unterdrückung und Entrechtung und weiteres Übel im Schild führenden Mannes und dessen auf Zerstörung hinauslaufende Unkultur sein.

Der Übergriff untergliedert sich in die mal eher luzid, mal eher verschattet betitelten Kapitel „Die Belästigung“, „Die Übertretung“, „Die unendliche Disziplin“, „Die Verflüchtigung“, „Die Schlüsselgewalt“, „Das vorhandene Vergehen“ und „Die Verflüssigung“. Diese Kapitel, diese auch mit Gesellschafts-, Medien-, Globalisierungs- und Wissenschaftskritik ausgestatteten Bühnen für eine existentielle, unablösbar ans Geschlecht, an Geschlechterrollen und Geschlechterentwürfe gebundene Problematik, geben eine Geschehensfolge wieder, die sich zwischen Frühsommer und Herbst eines Jahres wohl in den 1990er Jahren ereignet. Dabei folgt die Erzählung nur in Teilen der Chronologie. So erfährt man erst zum Schluss, wie die zuvor erzählten Begebenheiten ihren Anfang nahmen.

Bei diesen für die Ich-Erzählerin auf ein psycho-physisches Herunterkommen, eine „Einübung in eine reißende Angst“ hinauslaufenden Begebenheiten handelt es sich im Wesentlichen zum einen um eine Schiffsreise (inklusive eines Landgangs und einer dabei drohenden Vergewaltigung), von der man nicht so genau weiß, wohin sie führt – West- oder Ostafrika vermutlich –, da die diesbezüglichen Angaben zusammengenommen kein schlüssiges Bild ergeben. Zum anderen wird großräumig von einer auf dem Schiff beginnenden, wohl ein paar Monate dauernden Affäre der allgemein zu Unterwürfigkeit neigenden Protagonistin mit einem (wie andere Männerfiguren auch) zur Karikatur stereotypisierten, schon bei Funzellicht betrachtet gedanken- und gefühlsleeren Manager aus der Gas-Branche berichtet, der sie „in Beschlag genommen hat“, sowie von dessen abgründigem provinziellen Wohnort und eingleisiger Lebens- bzw. Arbeitswelt.  Schließlich kehrt die Ich-Erzählerin – geläutert ja oder nein? – wieder in ihre eigenen vier Wände zurück.

Dabei versteht es sich, dass sich Krechel mit diesen scheinbar banalen Orten und Begebenheiten – Stichworte: Schiff, Reise, (Liebes-)Abenteuer – in nach Jahrtausenden zählende literatur- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge ersten Ranges einschreibt. Diese Zusammenhänge, etwa denjenigen der in Religionen und in den Künsten anzutreffenden nautischen Metaphorik, zumindest ansatzweise mit zu denken, gibt der Erzählung nicht nur ein zusätzliches gehaltliches Volumen, sondern auch eine neue, Einzelfall und Situatives transzendierende Qualität.

Hier, am Schluss der Erzählung, von dem zuvor die Rede war, lesen wir jedenfalls, dass die biographisch nur schwach, doch dem Naturell nach scharf konturierte Ich-Erzählerin – u.a. ist sie offensichtlich Single und neigt zu Gleichmut, „Einverständnis mit allem und nichts“ (auch Männer betreffend), „Mangel an Willenskraft“ und „Feigheit“ („beschönigend Ohnmacht“ genannt) – wohl in Deutschland und dort in bzw. in der Nähe einer Großstadt lebt. Es könnte sich dabei, liest man eine konkrete Ortsangabe der Erzählung – „Liederbach“ – realistisch, um Frankfurt am Main handeln.

Die um des Exemplarischen willen namenlos bleibende Ich-Erzählerin, als „erfahrene Schiffsreisende“ ohne „Bedürfnis nach einem gleichbleibenden Zuhaus“ eine Unbehauste neueren, nur am Rande an Hans Egon Holthusens einst so einflussreiches Konzept erinnernden Typs, scheint mit niemandem näher befreundet und allgemein „verschlossen[er“] Natur zu sein. Nach eigener Aussage hat sie bisher möglicherweise „überhaupt nicht gewohnt, sondern nur gelebt“, und wichtig ist es ihr, stets keinesfalls zu „privat“ oder zu „vertraut[]“ zu werden, auch nicht in intimen Verhältnissen. Ein gediegenes Maß an wechselseitiger Fremdheit zu erhalten ist für sie geradezu erstrebenswert, nicht zuletzt deshalb, weil es Abschiede erleichtert, auch den allerdings mit einem Nachspiel behafteten von dem Manager.

Außer einer väterliche Gewalt gegen Nachbarsmädchen und diesbezügliches Versagen des eigenen Vaters betreffenden Kindheitserinnerung erfahren wir nichts weiter über das Vorleben der Ich-Erzählerin. Als Frau in ihren Dreißigern, vielleicht Vierzigern ist sie tagein tagaus wie „[g]roße Schwärme von nett gekleideten jungen Frauen“ auch in ein ihrem Empfinden nach „höherrangig[es]“ Büro gegangen, dann aber mehr oder minder plötzlich „freigesetzt worden“:

[I]ch konnte den Verlust meiner Arbeit nur als mittleres Unglück ansehen. […] Meine adretten Kostümchen brachte ich in einen Second-hand-Laden, die Leere in meinem Kleiderschrank, die Leere in meinen Empfindungen, die beschäftigungslosen Tage taten mir wohl. Irgendwann war dann die Stimme in meinem Ohr gewesen. […] Kurz danach war ich zu der Reise aufgebrochen.

Im Fortgang des Geschehens wird die Ich-Erzählerin dann zunächst die „Strategie der „Schweigsamkeit“ gegenüber der letztendlich scheinbar auf Wesens-Vernichtung ausgehenden, zusehends unberechenbaren „Stimme“ entwickeln, um nachfolgend dafürzuhalten, dass es besser gewesen wäre, sich ihr „mit Gebrüll“ entgegenzustellen, „Grobheit mit Grobheit [zu] erwidern“. Dann aber heißt es, eine Wendung vorbereitend: „Herumkommandiert werden oder Kommandieren […], das konnte nicht die Alternative sein“. Schließlich ist sogar von einer „vernünftige[n] Koexistenz“ mit der „Stimme“ die Rede, scheint es der Ich-Erzählerin doch nunmehr so zu sein, dass sich die „Stimme“ nicht deshalb eingestellt hat, um „Sprachmöglichkeiten“ zu unterbinden, sondern um „eine mangelnde Beweglichkeit“ der Ich-Erzählerin im „Zu- und Hinhören“ zu beheben.

Worum geht es thematisch in Der Übergriff? Es geht, um nur einige Themen zu nennen, um die „Verheerungen des Körpers durch die Begierden“, um Lust und Gewalt und die Zurichtung von Frauen wie Männern, um „Bewegungsfreiheit“ der oberflächlichen und der eigentlichen, nämlich das Wesen freisetzenden Art, um deformierende Internalisierungsprozesse und Selbstzensur, um das „Einüben“ in das „Schweigen“ als einer „Gewohnheit wie das Essen von Weinbrandpralinen“, um „Sich-klein-Machen“, „Lebens-Versäumnis“ und Widerstand, um die sogenannte „Stimme der Vernunft“ und die sogenannte „Ordnung der Dinge“, um bedürfen, gebrauchen und missbrauchen, um das Fehlen von Mitgefühl und Solidarität allüberall, um den falschen Lebensvollzug im falschen Leben, um die „Angst“ vor vermeintlicher „Gewissheit“ sowie derjenigen vor der „Gleichmäßigkeit des Lebens“, um – – – aber lesen Sie selbst. Und überlesen Sie dabei nicht die grundlegenden, quasi metatextuellen Gedanken, die der Sprache, dem Sprechen, dem Erzählen, dem Schreiben und dem Lesen gelten.

Abschließend eine Anmerkung zu dem stylisch „Achse der Achtsamkeit“ betitelten Nachwort von Antje Rávik Strubel. Hier hätte man sich beispielsweise Aufklärung darüber gewünscht, inwiefern der jetzige Text – das Impressum spricht von „Bearbeitete[r] Neuauflage“ – von der ersten Auflage 2001 abweicht. Stattdessen präsentiert das Nachwort um einer kruden Aktualisierung willen mehrheitlich eine Aneinanderreihung hipper Geschlechter-‚Wahrheiten‘, interpretatorischer Stereotype und zeitgeschichtlicher ‚Tatsachenbehauptungen‘.

Hat Krechels Text tatsächlich, um ein Beispiel zu nennen, schon in seiner Ursprungsform die ihm nachfolgend attestierte Weitsichtigkeit gehabt?

Der Übergriff hat schon 2001 zusammengedacht, was uns erst […] der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine […] in Zeiten der nahenden Klimakatastrophe erschreckend vor Augen führt: auf welche Weise das toxische Gas patriarchaler Herrschaft und das konkrete fossile Gas von Autokraten und Diktatoren einander bedingen.

Weitsichtig und aktuell ist Krechels Der Übergriff mit all den angesprochenen Themen und der Art und Weise, wie diese verhandelt und dargeboten werden, ohne Frage, gewiss aber nicht in jener lauthals-trendigen Art, von der das auch ohne Krechel-Bezug fragwürdige Zitat zeugt.

Titelbild

Ursula Krechel: Der Übergriff. Erzählung.
Jung und Jung, Salzburg 2022.
176 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272725

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