Frankreich im August 1572: In Paris geben sich der 18-jährige Heinrich von Navarra und die 19-jährige Margarete von Valois das Jawort. Er ist der Ranghöchste der Hugenotten, sie Katholikin und Schwester des französischen Königs. Die Verbindung soll ein Zeichen der Versöhnung sein, ein politischer Schachzug, um die blutigen Konfessionskriege, die Frankreich seit einem knappen Jahrzehnt erschüttern, zu beenden. Doch die Zeremonie verlauft alles andere als verheißungsvoll: Der Bräutigam weigert sich, eine katholische Kirche zu betreten, die Trauung muss auf dem Vorplatz der Kathedrale von Notre-Dame besiegelt werden. Wenige Tage darauf werden mehrere Hugenottenführer, die sich als Hochzeitsgäste in der Hauptstadt aufhielten, ermordet. Vermutlich auf Geheiß der Mutter der Braut, der übermächtigen Katharina von Medici. Endgültig eskalierte die Lage in der Nacht vom 23. auf den 24. August – von "Bartholomäusnacht" sprechen später die Geschichtsbücher. Paris versank im Gemetzel. Glaubt man dem Bericht eines Augenzeugen, "floss das Blut auf den Straßen, als habe es stark geregnet". Innerhalb weniger Stunden fielen Tausende von Menschen, hauptsächlich Hugenotten, dem Massaker zum Opfer.

In den folgenden Wochen ereignete sich in Toulouse, Lyon und Rouen Ähnliches. Im Oktober erfasste die Gewaltwelle Bordeaux. Priester riefen zum Mord an den "Ketzern" auf, unter Führung des königlichen Militärkommandanten wurden an die 250 Personen niedergemetzelt. Ungefähr 40 Kilometer entfernt vom blutigen Geschehen saß der 39-jährige Michel de Montaigne im frisch ausgebauten Bibliotheksturm seines Landschlosses. Unlängst hatte er mit dem Abfassen seines großen Werks begonnen, das ab 1580 in mehreren erweiterten Auflagen unter dem Titel Essais erscheinen sollte. Der Titel steht für eine damals völlig neuartige Textgattung – den Essay als kurze, geistreiche, subjektiv eingefärbte Gedankenversuchsanordnung.

Was wohl gewesen wäre, wenn sich Montaigne, der bis 1570 das Amt eines Parlamentsrats in Bordeaux innehatte, zum Zeitpunkt der Ausschreitungen in der Stadt aufgehalten hätte? Folgt man dem Historiker Volker Reinhardt, der dem schreibenden Schlossherren eine bemerkenswerte Biografie gewidmet hat, hätte Montaigne in diesem Fall durchaus um sein Leben fürchten müssen. Er war zwar Katholik, zugleich aber überzeugter Anhänger der "Versöhner-Partei". Damit stand auch er auf der Abschussliste der Fanatiker.

Das Bewusstsein dieser Gefahr sollte Montaigne bis an sein gewaltloses Lebensende am 13. September 1592 begleiten. Neben den Hugenottenkriegen, die erst sechs Jahre nach seinem Tod endeten, wurde das allgemeine Krisengefühl durch eine Pestepidemie verstärkt. Reinhardt zufolge schrieb Montaigne auch, um seiner Ängste Herr zu werden. Um sich in einer Zeit, in der man jeden Tag einer marodierenden Söldnerbande zum Opfer fallen konnte, des eigenen Lebendigseins zu vergewissern. Dennoch handelt es sich um mehr als therapeutische Selfcare. Hinter seinem entspannt mäandernden Plauderton verbirgt Montaigne konzentriertes politisches Engagement. Es geht ihm nicht nur darum, die Ursachen der mörderischen, ins Gewand der Religion gekleideten Konflikte zu ergründen, sondern darum, sie zu beheben. Ferner handeln die Essais von Alltäglichem: Ehe, Kindererziehung, Essgewohnheiten, Tierliebe, Freundschaft, Körperfunktionen, Lektüreerfahrungen, Spleens und Obsessionen. Und vom Sterben. Die Frage nach einem "guten Tod" wurde zur Meditationsübung schlechthin für Montaigne.

Montaigne schrieb mit raffiniert choreografierter Unsystematik. Neben seinem verspielten, denkbar unprätentiösen Stil hat ihm die Überzeitlichkeit seines Denkens anhaltenden Nachruhm und unverwüstliche Zitierfähigkeit gesichert. Frappierend modern sind etwa seine Überlegungen zur Unbeständigkeit und Widersprüchlichkeit des Ichs, sein unermüdliches Plädoyer für Toleranz, seine Skepsis gegenüber Dogmen aller Art und seine Demontage eines allzu blauäugigen Humanismus, der meint, die menschliche Neigung zu Grausamkeit und Gewalt durch Bildung und moralische Ermahnungen unschädlich machen zu können. Auch für Reinhardt steht außer Zweifel, dass Montaignes Beobachtungen nach wie vor hochgradig anschlussfähig sind. Allerdings geht es dem Biografen ausdrücklich nicht darum, die Identifikationsbedürfnisse der Leserpsyche des 21. Jahrhunderts zu bedienen. Denn auch wenn Montaignes Schriften losgelöst vom historischen Kontext ein ergiebiger Aphorismensteinbruch sein mögen, ihre intellektuelle Schärfe entfalten die Essais nur, wenn man sie mit dem Geist und Ungeist der Zeit, in der sie verfasst wurden, in Beziehung setzt. Daher konzentriert sich Reinhardt in erster Linie auf das historische Individuum. Montaigne gerät als Kind seiner Zeit in den Blick, als Persönlichkeit, die fest mit den Horizonten des 16. Jahrhunderts verwoben war, auch wenn sie regelmäßig darüber hinaus dachte.