Lyrisch schwebende Fantasien

Nico Bleutge dichtet in „schlafbaum-variationen“ über besondere Wahrnehmungen und Momente

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über seine inspirierenden Vorbilder gibt Nico Bleutge am Ende seines neuen Lyrikbandes karg Auskunft, indem er Namen von Personen nennt, denen er, so schreibt er, die „wichtigsten Anregungen“ verdankt. Ovid, Mircea Eliade und Friedrich Hölderlin werden erwähnt, ebenso Elizabeth Bishop und Ilse Aichinger. Bleutge möchte Dank abstatten, leise, dezent, fast lautlos und demütig, doch nicht unerwähnt lassen, wessen Dichtkunst er sich nahe und verbunden weiß. Wer mag, kann sich in diesem Band auf Spurensuche begeben – und Resonanzen und Widerhall in Bleutges Dichtungen erkennen.

Das lyrische Ich weiß sich „beflügelt“, wenn „der Anfang“ anhebt, behutsam und weiträumig, „als wäre es land und meer“. Fantasieräume öffnen sich, laden ein, gewähren Einlass allen, die sich trauen, die Sicherheit der geerdeten Prosa des Alltags momenthaft mit luftiger, schwebender Dichtung zu bereichern und zu erweitern, gedanklich zu fliegen – „in wiegender Luft“. So schaut er zum Himmel und sieht:

kommt fieber in schwärmen? jeder vogel trägt
einen lichtpunkt im schnabel, zehntausend elstern

zur brücke gefasst, mit mücken gestrasst, ein spei-
chern dieser temperatur; zahllos, blühend weiß

In diesem Gedicht verwebt Bleutge die Solarenergie mit den Nomaden der Lüfte, verbindet die säkulare Ökologie mit einer tierisch-himmlischen Musik. Die Vögel droben reisen mit den Wolken, tragen einen „lichtpunkt“, während unten, unter ihnen, das „solarfeld“ – reines Menschenwerk, gänzlich erdverbunden und nicht schwebend – sichtbar ist. Das lyrische Ich, auch die Leserinnen und Leser, schauen wehmütig und hoffnungsvoll auf zu den Vögeln, die davonfliegen, ein Schwarm, der hoffentlich nicht in einer Windkraftanlage verendet. Doch über die Energiewende und ihren Folgen für den Naturschutz dichtet Bleutge nicht, er hat nur Augen für die Vögel des Himmels und bleibt ihnen zugetan. Die Solarfelder bilden dabei eine Kulisse von großer Harmlosigkeit.

Gedichte über Tiere folgen, Annäherungen an Artgenossen besonderer Art, und der Dichter formuliert lakonisch wie lustvoll. Er öffnet Perspektiven, neue Sicht- und Anschauungsweisen, etwa wenn er zu sinnieren beginnt:

sich elefanten denken, weit in ein untergehendes rot, sich
ihre beine denken, lang und gestreckt, die schwere
ihrer rauhen füße, wie sie im ziehen, schmal
und schmaler werden, rot, das nicht im kopf sitzt, nicht
in den hügeln. heben sich glieder. beine. heben sich weit
in dieses oben schweben schwerer steine.

Das Bild der Giganten in der afrikanischen Steppe entsteht vor dem geistigen Auge, zunächst wie eine romantische Naturbetrachtung, eine Herde, die sich behäbig zu bewegen scheint, in ihrer eigenen Zeit und langsam aus dem Blickwinkel entschwindet, während die Sonne, das untergehenden Rot, immer mehr die Szenerie beherrscht, ein „rot, das nicht im kopf sitzt“, sondern sichtbar ist, nicht vorgestellt, wie der Einbruch der Realität in die poetische Sprache, die mehr und mehr sich rätselhaft neu formiert. Die Elefanten verlieren ihre Konturen. Von den fantasievoll imaginierten grauen Riesen bleiben „glieder“ und „beine“, die – unerwartet paradox – „in dieses oben schweben schwerer steine“. Lesend halten wir inne, grübeln, strecken uns tastend aus, ehe der Dichter zurückkehrt zu den Elefanten – „die elefanten harren aus, inmitten von steinen / schwebender leere, langer schlaf in den gelenken“. Sie sind müde geworden, aber sie bleiben, verfolgen ihren Weg, gehen Schritt für Schritt auf das Rot zu, das der Vorstellung entspringt oder der erträumten, beobachteten Welt, in der die Elefanten das tun, was wir mit ihnen verbinden – die grauen Riesen harren aus, lassen sich nicht aufhalten und folgen ihren Wegen. Rätselhaft bleibt dieses, bleiben andere Gedichte, doch auch die Bilder, die Bleutge weckt, verschwinden nicht, verbleiben wie die Elefanten und harren in uns aus, bisweilen auf Deutungen wartend. Vielleicht genügt oft auch die poetische Anschauung, die der Dichter uns schenkt.

Bleutge berichtet von einem „gefühl für verplombte wörter“ – doch was mag das sein? Der „ameisenhimmel“, von dem das lyrisch Ich zunächst berichtet, ist es nicht, denn er wollte ausschließen, dass es ihn nicht doch geben könnte. Die verplombten Wörter beherbergen anderes, zwei Beispiele folgen – „lichtkäfig“ und „freßlack“. Während das zweite Wort dunkel bleibt, regt der erste Begriff an, über Lichtquellen nachzudenken, die weithin sichtbar sind – doch wer näher herantritt, sieht die Gitterstäbe, nimmt das Licht wahr, das anderen leuchtet, aber selbst eingezwängt bleibt. Vielleicht stiftet ein Wort wie dieses zu Fantasien, zu weitreichenden Gedanken, ja zu philosophischen Reflexionen an. Dieses Sinnieren endet im nächsten Vers – „plötzlich waren schreie in der luft (von vögeln, unnachgiebig laut)“. Manche Leserin, mancher Leser ertappt sich beim Lächeln, denn Möwen und Krähen kreischen gewiss „unnachgiebig laut“, hoch in den Lüften, ignorant gegenüber allem tatsächlich oder vermeintlich Tiefgründigem.

Nico Bleutges höchst eigensinnige Dichtungen regen an, führen hinaus in die Weite des Gedankens und bergen ganze eigene Sprachmelodien in sich. Lesend dürfen wir uns darauf einlassen, versuchsweise, und bei allzu hohen Gedanken, die sich zu den Versen einstellen, darauf hoffen, dass unerwartetes Krähengekrächz von droben die andächtige Stille allzu erhabener Reflexionen naturhaft beendet und uns ein leicht schwebendes Lächeln schenkt. 

Titelbild

Nico Bleutge: schlafbaum-variationen. gedichte.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
117 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783406798542

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