Modallogik im Grasland

Gerald Murnanes „Inland“ ist auf Deutsch erschienen.

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim Lesen Gerald Murnanes kommt mir immer eine Szene aus dem Film Gladiator in den Sinn – Russell Crowe als kaiserzeitlicher Römer, ich glaube, es ist ein Traum oder ein Tagtraum, geht durch seine Getreidefelder und streicht mit der Hand über die hochstehenden Halme – man hört das Rauschen und so sehe ich Crowe und höre das Rauschen des Graslands, das bei Murnane oft als Akteur/Raum/Lebenswelt vorkommt: „Auf Grasländern vergesse ich fast meine Angst zu ertrinken.“

Murnane entwirft in Inland mögliche Welten – das aber stärker als Literatur es sonst tut. Das ist ein bisschen wie angewandte Modallogik in Geralds Kopf. Aussagen können wahr oder falsch sein, sie können aber auch möglich oder notwendig sein. Was heißt das? Manche Aussagen sind ganz einfach notwendig: Junggesellen sind unverheiratete Männer. Dann gibt es falsche Aussagen, die dennoch möglich sein (könnten). Das lässt sich prüfen, indem man es sich einfach vorstellt. „Menschen haben drei Beine“, falsch, aber möglich, stellʼs dir vor. So eine Welt könnte es ja geben, es gibt also verdammt viele mögliche Welten/Situationen, unsere ‚reale‘ Welt ist nur eine von vielen möglichen.

And so it goes in Murnanes Buch. Es beginnt mit der Anwesenheit oder der Imagination der Anwesenheit eines Ichs, das „in der Bibliothek eines Herrenhauses“ schreibt, das in einem Dorf in der Nähe der Stadt Kunmadaras im Komitat Szolnok liegt (gibt es in der realen Welt). Dies Ich schreibt „(s)chwermütiges Ungarisch“ (so seine Lektorin, die auch vielfach durch mögliche Welten getrieben werden wird): Was er hier schreibe, ruhe „leicht“ auf dem Papier, die „Schwere aber, die auf mir lastet ist vielleicht das Gewicht all der Worte, die ich noch nicht geschrieben habe“. Es könnte auch anders sein: diese auf ihm lastende Schwere „könnte“ auch „das Gewicht all der Tage sein, die ich noch nicht gelebt habe“.

Wenn es im Kopf mögliche Welten gibt, dann können die auch verwehen, gewesen sein oder nie gewesen sein oder vergessen worden sein: „Ich habe im Augenblick vergessen, was ich einst in meinem Schulbuch las.“

Das Ich sieht etwas beim Blick durchs Fenster: eine Brunnenstange: „Aber dennoch“, vielleicht sieht das Ich eben nicht „jene bestimmte Brunnenstange auf der anderen Seite der Pappeln; einer meiner Aufseher hatte im letzten Jahr den Befehl erhalten, den Brunnen zu verstopfen und die Stange herunterzureißen – oder es kann auch ein anderes Jahr gewesen sein.“ Jetzt geht das Ich zum Fenster, „um zu erfahren, ob ich mich, gerade jetzt, des Anblicks eines gewissen Brunnens erinnerte oder ob ich träumte“.

Und wenn es mögliche Welten in einem Kopf gibt, der diese möglichen Welten erzählt, dann will der auch nicht unbedingt, dass man glaube, es handele sich um mehr als mögliche Welten – die vielleicht auch gar nicht gewesen sind. Das gesamte Buch hindurch wird Murnane/Ich mit dem/r LeserIn spielen, mit Ironie, Täuschung, Tricks durch direkte Ansprache:

Aber wenn ich Weiteres über den Schwengelbrunnen schreibe, werde ich dir zuliebe versuchen, Leser, zwischen dem zu unterscheiden, was ich sehe, und dem, an was ich mich erinnere und was ich von mir selbst träume, zu sehen oder zu erinnern.

Wer´s glaubt, schon möglich. Dann könnte aber natürlich auch der/die LeserIn an allem schuld sein:

Es tut mir nicht leid für dich, Leser, wenn du meinst, ich täusche dich. Ich kann schwerlich den Streich vergessen, den du mir gespielt hast. Du erlaubtest mir eine lange Zeit zu glauben, ich schriebe einer jungen Frau, die ich meine Lektorin nannte.

Wenn Murnanes Inland kurz beschrieben wird, dann wird oft ein im Buch zitierter Satz Paul Eluards notiert: „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser hier.“ Ja, so kommentiert das Ich: „Es gibt eine andere Welt, und ich habe an den meisten Tagen meines Lebens Teile dieser Welt gesehen.“

Auch mit den Körpern verhält es sich so, dass sie nicht einfach an einem Ort anwesend sind, wie Murnane wieder die/den Leser/Leserin belehrt (oder ironisch hoch nimmt?): „Lass mich dir sagen, Leser, was du, meiner Meinung nach, bist“: „Dein Körper […] ist der geringste Teil von dir. Dein Körper ist ein Zeichen von dir, vielleicht: ein Zeichen, das die Stelle markiert, wo der wahre Teil von dir beginnt“. Aber dieser wahre Teil „ist weitaus zu weitreichend und viel zu vielschichtig für dich oder mich, Leser, um darüber zu lesen oder darüber zu schreiben“.

Bei einem Spaziergang begriff das Ich, „dass keine Sache auf der Welt eine einzige Sache ist; dass jede Sache auf der Welt zumindest zwei Sachen ist und wahrscheinlich viel mehr als zwei Sachen. Ich lernte es, ein schräges Vergnügen darin zu finden, auf eine Sache zu starren und davon zu träumen, wie viele Sachen sie sein könnte.“

Klingt das jetzt alles wie eine etwas arge literarische Experimentalmaschine, schwurbelig and all the rest? Könnte sein. Scheint mir aber nicht so. In den hinteren Teilen des Buches kommt dieses Ich (genaugenommen) auf Murnanes Kindheit und Jugend zu sprechen. Da spielten Katholizismus, das sich Hineindenken in katholische Geistigkeit und katholische Rituale eine wichtige Rolle Dabei sinniert Ich/Murnane über die Dreifaltigkeit Vater, Sohn, Heiliger Geist. Und offensichtlich war das Kind/der Jugendliche am stärksten vom Heiligen Geist beeindruckt. Denn dieser war „schemenhaft und wandelbar. Er war eher viele Sachen als eine einzige Sache: manchmal ein dahinfegender Wind und manchmal Feuerzungen oder ein Lichtstrahl.“

Noch eine letzte Szene sei geschildert, um Murnanes Verfahren zu verdeutlichen und zugleich darauf zu verweisen, in wessen Kopf sich hier alles abspielt/abspielen könnte. Das Ich wird in seiner Bibliothek besucht von einem ‚Verfasser von Büchern‘ (so wird der genannt), der sagt:

Ich bin ein Verfasser von Büchern. Ich bin ein Geist. Während ich schrieb, sah ich Geister von Hunderten von Büchern, die ich nie gesehen habe und nie sehen werde, in Bibliotheken, wo Geister von Menschen, die ich nie gesehen habe und nie sehen werde, davon träumten, jungen Frauen in Amerika zu schreiben. Ich sah Geister meiner eigenen Bücher in Geistern von Bibliotheken, in die niemand kommt, um die Glastüren von Bücherschränken aufzuschließen.

Und wieder: War dieser ‚Verfasser von Büchern‘ wirklich in der Bibliothek von Ich? Hat er wirklich mit Ich gesprochen? Vielleicht, vielleicht nicht, denn: „Einige Leute haben gesagt, ein Auge sei ein Fenster, doch jeder, der genau geschaut hat, hat gesehen, dass ein Auge ein Spiegel ist.“ Also sieht er nur sich selbst oder in seinen eigenen Möglichkeitsweltenkopf hinein.

Instruktiv (oder auch wieder Spiegelei) ist das Nachwort, das Murnane 2013 schrieb. Inland ist in Australien zuerst 1988 erschienen, es erlebte sechs Auflagen. Im Nachwort will Murnane keine Deutung liefern, aber er wurde öfter gefragt, ob das Buch mehrere oder nur einen Erzähler habe (und wieder der kleine Möglichkeitstrick). Er wolle dazu nur anmerken, „dass das Buch, meiner Meinung nach [meine Hervorhebung, KS] nur einen Erzähler hat und nicht die verschiedenen, die einige Leser gefunden zu haben scheinen.“ Aber, so Murnane weiter, man muss sich ja klar machen, „dass jeder Text mehr ist als ein einziger Text“.

Habe ich das Buch richtig gelesen? Falsche Frage. Kaum möglich. Lesen Sie es und finden Sie Ihre eigene mögliche Lesart.

Titelbild

Gerald Murnane: Inland.
Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225349

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