Christen liess er verbrennen, und seine Berater zwang er zum Selbstmord: Neros Grausamkeit ist sprichwörtlich, doch wer dieser Kaiser wirklich war, werden wir nie wissen

Neros Herrschaft ist geprägt von Schauergeschichten. Sie erzählen von Mord, Intrigen und einem Herrscher, dessen Handeln nur als Ausdruck von Geisteskrankheit erklärt werden kann. Der Historiker Alexander Bätz erzählt das Leben des römischen Kaisers in allen Details.

Thomas Ribi 6 min
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«Was für ein Künstler geht in mir zugrunde!», soll Nero bei seinem Tod gesagt haben: Welche Gemeinheit sich der Kaiser da gerade einfallen lässt, kann man nicht einmal erahnen. Peter Ustinov als Kaiser Nero in Mervyn LeRoys Monumentalfilm «Quo vadis» (1951).

«Was für ein Künstler geht in mir zugrunde!», soll Nero bei seinem Tod gesagt haben: Welche Gemeinheit sich der Kaiser da gerade einfallen lässt, kann man nicht einmal erahnen. Peter Ustinov als Kaiser Nero in Mervyn LeRoys Monumentalfilm «Quo vadis» (1951).

Everett Collection / Imago

Hitler, Stalin, Putin: Wenn für finstere Gestalten nach historischen Parallelen gesucht wird, kommt die Rede rasch auf Nero. Auch Donald Trump wurde schon mit ihm verglichen. Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie tauchte auf Twitter ein Bild auf, das den US-Präsidenten zeigte, wie er mit geschlossenen Augen Geige spielt.

Die gehässigen Kommentare überstürzten sich: Rom brennt, und der erste Mann im Staat greift zur Leier. Er muss wahnsinnig sein, sollte das heissen. Wie Nero, der römische Kaiser des 1. Jahrhunderts n. Chr., der zur Kithara gesungen haben soll, während Rom in Flammen stand. Wie Nero, der grausame Despot, von dem bekannt ist, dass er vor nichts zurückschreckte.

Vor gar nichts. 54 n. Chr. kam er, sechzehnjährig, auf den Kaiserthron. Seinen Stiefbruder Britannicus und seine Mutter Agrippina liess er kaltblütig ermorden, aus Eifersucht. Seine schwangere Frau Poppaea Sabina soll er im Streit mit einem Fusstritt getötet haben. Weggefährten zwang er zum Selbstmord, wenn er ihrer überdrüssig wurde, seine Berater schaffte er durch vergiftete Speisen oder Getränke aus dem Weg, wenn er den Eindruck hatte, sie könnten ihm gefährlich werden. Christen liess er ans Kreuz schlagen, als lebende Fackeln verbrennen oder in Tierfelle kleiden und von Hunden zerfleischen. Und sah dabei zu.

Schauergeschichten über Nero gibt es zuhauf. Schon zu seinen Lebzeiten machten Beispiele seiner Grausamkeit die Runde. In der Nero-Biografie von Alexander Bätz wird man reichlich mit ihnen versorgt. Nicht alles, was man sich erzählte, war wahr. Aber wenn nur die Hälfte davon stimmte, war es schon schlimm genug. Als im Juli 64 n. Chr. in Rom ein Grossbrand ausbrach, der einen grossen Teil der Stadt zerstörte, verbreitete sich sofort das Gerücht, der Kaiser habe das Feuer legen lassen.

Das Monster am Petersdom

Die engen Strassen und die hässlichen alten Häuser seien seiner Vision einer modernen Stadt im Weg gestanden, hiess es. Der Anblick des Flammenmeers habe ihn in regelrechte Begeisterung versetzt. Auf der Terrasse einer Villa auf dem Esquilin soll er ein selbst verfasstes Gedicht über den Untergang Trojas vorgetragen haben. Nicht ohne sich vorher ins Prunkgewand eines griechischen Sängers gekleidet zu haben.

Die Stadt Rom neu bauen: Kaiser Nero (Peter Ustinov) erklärt seiner Entourage seine Visionen. Bild aus dem Film «Quo vadis» (1951) von Mervyn LeRoy.

Die Stadt Rom neu bauen: Kaiser Nero (Peter Ustinov) erklärt seiner Entourage seine Visionen. Bild aus dem Film «Quo vadis» (1951) von Mervyn LeRoy.

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Ob das stimmt? Kaum. Aber man traute es ihm zu. Je länger Neros Herrschaft dauerte, desto unbeliebter wurde er. Als er gestorben sei, seien die Menschen jubelnd durch Rom gezogen, schreibt sein antiker Biograf Sueton. Der Senat beschloss umgehend, die «damnatio memoriae» über den Kaiser zu verhängen, die vollständige Auslöschung des Andenkens. Alles, was an Nero erinnerte, wurde zerstört: Statuen wurden zerschlagen, Münzen mit seinem Porträtbild eingeschmolzen, man radierte seinen Namen aus Inschriften und Urkunden. Nichts sollte an ihn erinnern.

Das Gegenteil trat ein. Nero wurde so bekannt wie kein anderer römischer Kaiser. Und das ist der Nachwelt zu verdanken, die ihn zum unmoralischen, skrupellosen und gewalttätigen Herrscher par excellence stilisierte. Zu einem Monster. Ab dem Mittelalter diente er als Beispiel für den schlechten Herrscher. Das Christentum machte ihn zum Antichrist – was ihm die Ehre verschaffte, als einziger römischer Kaiser auf dem Bronzeportal des Petersdoms in Rom verewigt zu werden. Während der Christenverfolgung soll er die Apostelfürsten Petrus und Paulus in den Märtyrertod geschickt haben.

Ein Leben auf Grossleinwand

Bis ins Mittelalter wurden immer wieder neue Schauergeschichten über Nero erfunden, um die moralische Verworfenheit des verhassten Kaisers zu illustrieren. Alexander Bätz ordnet sie ein, rückt das eine oder andere zurecht, überlässt aber weitgehend den Quellen das Wort und damit auch den Gerüchten. Zu weitgehend. Sein «Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit» projiziert das Leben des letzten Kaisers der julisch-claudischen Dynastie auf die Grossleinwand.

Auf fast sechshundert Seiten wird fast alles ausgebreitet, was antike Geschichtsschreibung und Biografik und mittelalterliche Legenden hergeben. Bätz ist nicht knauserig mit pikanten Details, da und dort mischt er die Fakten mit Fiktion auf. Schildert kaiserliche Festgelage, Opferzeremonien oder eine Tierhatz im Amphitheater. Das liest sich gut, zumal er ein glänzender Erzähler ist. Ob das Profil des Kaisers dadurch schärfer wird, ist allerdings fraglich.

Es ist nicht einfach, hinter dem Bild, das die Geschichtsschreibung gezeichnet hat, den historischen Nero zu entdecken. Vielleicht unmöglich. Die antiken Quellen zeichnen kein falsches, aber ein tendenziöses Bild seiner Persönlichkeit. Tacitus, Sueton und Cassius Dio geben den Blick der römischen Führungsschichten wieder. Der Philosoph Seneca auch. Er hatte die Aufgabe, für die philosophische Bildung des jungen Kaisers zu sorgen, und bezahlte das am Ende mit dem Leben. Nero befahl ihm, sich selbst zu töten.

Wie ein Schlafwandler

Dieser Blick ist getrübt, denn die Senatoren hatten sich damit abzufinden, dass ihre politische Macht verloren war. Bereits unter Augustus, zwei Generationen früher, war der Senat zum Gremium geworden, das Anträge abnickte. Unter Nero, der nicht das geringste Interesse an Politik zeigte, wurde paradoxerweise besonders deutlich, dass die Senatoren, eingeklemmt zwischen der Entourage des Kaisers und der Verwaltung, gar nicht mehr in der Lage waren, den Lauf der Dinge zu bestimmen.

Nero, das zeigt die Darstellung von Bätz anschaulich, bewegte sich in der Politik wie ein Schlafwandler, von Einzelaktionen abgesehen, die ihm bei der einfachen städtischen Bevölkerung Ansehen verschafften. Er liess Geld verteilen und richtete grosszügige Gladiatorenspiele aus, für die er eigens ein neues Theater bauen liess: das Kolosseum, das noch heute das Stadtbild Roms prägt. Das machte ihn beliebt beim Volk.

Politisch war er schwach. Seine eigentlichen Interessen galten der Kunst, der Musik, der Dichtung. Nero verstand sich als Künstler. Mit dem, was die Organisation des Reichs verlangte, wollte er möglichst wenig zu tun haben. Wichtige Entscheidungen überliess er seinen Getreuen und Beratern, die wiederum von seiner Mutter Agrippina abhängig waren. Zugleich scheint er launisch, jähzornig und genusssüchtig gewesen zu sein, und er reagierte unberechenbar, wenn er sich in seiner Eitelkeit gekränkt sah.

Die falschen Neros

Für all das liefert Bätz eindrückliche Beispiele. Doch wer war der historische Nero wirklich? Ein ins Politische gedrängter Künstler? Ein Psychopath à la «Hannibal the Cannibal»? Ein brutal kalkulierender Machtmensch wie Hitler oder Stalin? Oder ein überfordertes, von seiner dominanten Mutter abhängiges Muttersöhnchen? In der Fülle der Details wird das Bild, das Alexander Bätz zeichnet, nicht klarer, und vor allem bleibt die Frage nur in Ansätzen beantwortet, wie ein Reich funktionieren konnte, dem die Integrationsfigur an der Spitze fehlte.

Immerhin, ein Teil des Volks hing an Nero. In Griechenland und Kleinasien wollten die Leute den Tod des Kaisers lange nicht wahrhaben. Er hatte Griechenland, das für ihn als Land der Literatur und Kunst galt, die Freiheit geschenkt. Vorher war es eine römische Provinz gewesen. Deshalb galt er als Wohltäter. Mehrmals machten im Osten des Reichs falsche Neros von sich reden. Nachahmer, die davon profitierten, dass die Leute den Kaiser als «guten Dämon» verehrten.

Der richtige Nero war damals allerdings schon tot. Er hatte sich im Juni 68 n. Chr. das Leben genommen, einunddreissigjährig, nachdem er jeden Rückhalt verloren hatte. Die Leibwachen waren von ihm abgefallen, der Senat hatte ihn zum Volksfeind erklärt. Und natürlich ist auch Neros Tod zu einer Geschichte geworden. «Was für ein Künstler geht in mir zugrunde!», soll der Kaiser am Ende seines Lebens gesagt haben. In den letzten Stunden habe er seinen Selbstmord immer wieder hinausgeschoben, erzählt Sueton. Bis die Pferde der Soldaten zu hören waren, die kamen, um ihn festzunehmen. Ein Sekretär habe ihm helfen müssen, sich den Dolch in die Kehle zu stossen.

Alexander Bätz: Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2023. 576 S., Fr. 49.90.

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