Efeu - Die Kulturrundschau

Zig Anfragen, viele Anwaltsbriefe

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28.03.2023. Tja, die Sanierung des Pergamonmuseums wird etwas teurer als geplant, dauert dafür aber auch länger, melden die Zeitungen. Die FAZ erlebt in Darmstadt, wie die moderne Kunst mit ihrem großen Sprung zurück dem Manierismus des Fin de siècle entkam. Welt und Tagesspiegel halten sich bei Katharine Mehrlings rasanter Kurt-Weill-Peformance an ihren Sitzen fest. Romane sollten nicht aus dem Schulunterricht entfernt werden, weil darin Rassismus auch in rassistischen Formulierungen reflektiert wird, meint Harry Nutt in der FR. Und allen Zitaten zum Trotz haben es De la Soul jetzt doch in die Streamingdienste geschafft, freut sich die SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2023 finden Sie hier

Kunst

André Masson: Le sang des oiseaux, 1956, Centre Pompidou

Überwältigt kommt FAZ-Kritiker Stefan Trinks aus dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt, das mit der Ausstellung "Urknall der Kunst" jenen Moment zeigt, als die moderne Kunst alle Tradition über den Haufen warf, um sich von den steinzeitlichen Höhlenmalereien inspirieren zu lassen, die der Ethnologe Leo Frobenius in Ägypten und Simbabwe erforscht hatte: "Auch Paul Klee fieberte stets Frobenius' neuen Bildern aus dem Altertum entgegen, wie eine Gegenüberstellung in Darmstadt augenfällig macht: Die Reptilien seines Bildes 'Zweierlei Schildkrot' ähneln verblüffend zwei behäbigen und in die Fläche projizierten Steinzeit-Schildkröten aus Simbabwe der Zeit von 10.000 vor Christus. Wie bei seinem 'Vorbild' füllt auch Klee die Körper der Tiere vollständig mit tiefroter Farbe aus. Er nutzt dafür wie so oft Kleisterfarbe, die besonders spröde und archaisch wirkt. Vielleicht weil die Manieriertheit des Symbolismus in Frankreich und die Endzeitstimmung des dortigen Fin de Siècle in besonders hohen Amplituden ausgeschlagen hatten, gingen die Künstler in Paris weiter zurück in die Vergangenheit als andernorts."

Die Sanierung des Pergamonmuseums wird - nicht überraschend - doch ein wenig teuer als geplant, berichtet unter anderem Andreas Kilb in der FAZ. Statt 240 Millionen Euro werden mittlerweile 1,2 Milliarden Euro für das Vorhaben veranschlagt, dafür soll das Museum teilweise bis 2037 geschlossen bleiben. Kilb räumt ein, dass es gute Gründe für die Kostenexplosion gibt: "Aber je länger das Drama dieser teuersten aller deutschen Kulturbaustellen dauert, desto öfter fragt man sich, warum Politik und Museumsverantwortliche nicht schaffen, was in anderen europäischen Hauptstädten regelmäßig gelingt: eine Sanierung bei laufendem Betrieb. Ist es die Sorge um die Objekte? Oder doch nur die alte deutsche Furcht vor Improvisation?" Der Standard zitiert Stefan Weber, seit 2009 Direktor des Museums für Islamische Kunst: "Ich habe mindestens so viele Wasserschäden wie Dienstjahre." Weitere Berichte in Tagesspiegel oder ZeitOnline.

Weiteres: In der SZ begrüßt Catrin Lorch, dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Restitutionsfall von Picassos "Madame Soler" Druck auf Bayern ausübt.

Besprochen werden Arbeiten von Jan Machacek und Otmar Wagner zu Ageismus im Wiener Wuk (die Standard-Kritiker Helmut Ploebst schön vor Augen führen, wie "die von der Digitalindustrie ausgebeutete Jugend, die Erwachsenen in ihren Burnout-trächtigen Tretmühlen und die weggestoßenen Alten" gegeneinander ausgespielt werden), die Klimakunst-Ausstellung "Vor dem Sturm" im Privatmuseum Bourse de Commerce des Multimilliardärs François Pinault (Tsp) und Carey Youngs Porträts britischer Richterinnen "Appearance" in der Modern Art Oxford (Guardian).
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Literatur

Höflich, aber bestimmt gibt Harry Nutt in der FR seinem Entsetzen Ausdruck, dass die Lehrerin Jasmin Blunt Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras" wegen rassistischer Sprache aus dem Schulunterricht fernhalten will (unser Resümee). Der Roman bringe einen Stream of Consciousness, er wende sich gegen Rassismus, ist aber natürlich in seiner Zeit geschrieben, so Nutt: "Erweisen sich die Versprechen der Aufklärung nicht als fatale Illusion, wenn Akademiker und Akademikerinnen, die mit der Vermittlung von Kunst und Literatur betraut sind, vor einer zeitgenössischen Rezeption lieber kapitulieren, anstatt einen Ansporn darin zu sehen, das Handwerkszeug zu schärfen und es zur Geltung zu bringen? Anlass zur Sorge bereitet die anhaltende Diskussion um 'Tauben im Gras' auch deshalb, weil selbst erfahrene Vertreterinnen der Literaturwissenschaft scheinbar nur bedingt Zutrauen in die Fähigkeit von jungen Menschen vor dem Abitur haben, eigene Antworten auf derlei Fragen zu finden."

Buchverlage haben die Eigenschaft, meist mit einiger Verspätung den neuesten digitalen Trends hinterherzulaufen. Nachdem "Second Life" doch nicht das ganz große Ding war, ist nun Tiktok dran. Kiepenheuer & Witsch hatte die großartige Idee, bei Tiktok aus Briefen unbekannter Autoren vorzulesen, die ein "unverlangtes" Manuskript eingereicht hatte, berichtet Adrian Schulz im Tagesspiegel. Da verlangt einer "10.000 Euro Vorschuss und gibt an, sein Werk mehreren Verlagen angeboten zu haben. Der erste, der ihm zusage, bringe die anderen Verlage 'auf den Friedhof'. Das Wort wird horrorfilmartig verzerrt ausgesprochen. Die Videos haben, anders als viele andere des Verlags, nicht hunderte oder tausende Aufrufe, sondern zwischen 50.000 und 1,2 Millionen." Aber der Verlag muss nun einen Sturm der Entrüstung überstehen: "Der Fall offenbart den Druck, unter dem sich die Verantwortlichen geglaubt haben müssen: mitzuhalten im schnellen Spiel der sozialen Medien. Inhalte entstehen hier nicht über Monate oder Jahre, sondern binnen Stunden. Wie viel Neues, Gutes kann ein Verlagshaus für dieses Umfeld produzieren?"

Außerdem: Andreas Platthaus würdigt den Schriftsteller Erwin Riess, Erfinder des behinderten Kommissars "Groll", selbst behindert und virtuoser Schmäher Österreichs, der im Alter von 65 Jahren gestorben ist

Besprochen werden unter anderem Barrie Koskys Memoirenband "Und Vorhang auf, hallo! - Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co.", Trude Teiges Roman "Als Großmutter im Regen tanzte" über Norwegen im Zweiten Weltkrieg (beide FAZ), Jan Philipp Reemtsmas Biografie über Christoph Martin Wieland und Daniel Glattauers Roman "Die spürst du nicht" (SZ).
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Bühne

Katharine Mehrling in "... und mit morgen könnt ihr mich!" an der Komischen Oper Berlin. Bild: Barbara Braun.

Welt
-Kritiker Manuel Brug hat noch selten so eine kraftvolle Performance von Kurt-Weill-Songs gesehen wie bei Barrie Koskys Liederabend "... und mit morgen könnt ihr mich!" an der Komischen Oper Berlin. Das liegt vor allem an einer sehr wandelbaren Katharine Mehrling, die "mit neun Kostümen und viel mehr Stimmen ihre eigene Power-Show ist. Die nie außer Atem kommt, die die Stille des 'blinden' wie des 'ertrunkenen Mädchens' traumverloren melancholieverbrämt auskostet, sich aber auch fast schreiend durch lauter neue 'Mackie Messer' Facetten rockt und der 'Seeräuber Jenny' rasante Schifffahrt schenkt." Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz musste sich vor lauter musikalischer Rasanz an ihrem Sitz festhalten: "Kai Tietje, der die Songs arrangiert hat, sorgt am Pult für schmissige Tanzrhythmen, mit Saxofon, E-Gitarre und opulentem Bigband-Sound. Ob orientalische Oboe mit Trommel, Slowmotion-Tango mit Flamenco-Einsprengseln bei der 'Zuhälterballade', Rumba oder Swing: Die Damen in der Reihe vor uns katapultiert es fast aus den Sitzen." Über minutenlange stehende Ovation berichtet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung. In der FAZ bespricht Stephan Speicher Barrie Koskys gerade erschienene Autobiographie "Und Vorhang auf, hallo!": "In allem zeigt sich eine selbstverständliche, kindlich-jünglingshafte und niemals verlorene Freude an der Kunst und der Bühne. Der Vorhang geht auf, gleich geschieht etwas Wunderbares, und alle sind dabei."

Besprochen werden Rieke Süßkows Adaption von Ferdinand Schmalz' Roman "Mein Lieblingstier heißt Winter" am Schauspiel Frankfurt (nachtkritik, FAZ), Mateja Koležniks Inszenierung von Ödön von Horvaths "Kasimir und Karoline" am Burgtheater Wien (SZ) und Sabrina Sadowskas Inszenierung von Sergej Prokofjews "Cinderella" am Theater Chemnitz (FAZ).
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Film

Björn Hayer sieht Deep-Fake-Pornos, in denen die Köpfe bekannter Personen auf kopulierende Körper montiert werden, in einem kleinen Essay für die Welt als einen Akt digitaler Gewalt, begangen von einer Porno-Industrie, die die übelsten Tendenzen des Kapitalismus verkörpert: "Das Filmen des Aktes mit falschen Gesichtern dient ja nicht nur dem zweifelhaften Amüsement bestimmter Nutzer, sondern unterliegt dem Zweck, die eingebaute Person bewusst vorzuführen und ihre persönliche Integrität und Intimität zu verletzen. Diese penetrative Logik muss man als digitale Vergewaltigung bezeichnen, die in ihrer weitreichenden Konsequenz bei Weitem noch nicht Eingang in die Strafgesetzgebung gefunden hat."

Helmut Berger als Bankier Keinszig im "Patern 3".


Im amerikanischen Kino hat die Imagewerbung Schweizer Banken eindeutig nicht verfangen, muss Andreas Scheiner in der NZZ konstatieren: "Wenn Schweizer einmal ordentlich vorkommen, dann ordentlich verkommen. Finanzhai, Aasgeier, das Charakterprofil ist klar vorgegeben. Frederick Keinszig kommt einem in den Sinn, aus 'The Godfather Part III'. Der Chefbuchhalter des Vatikans, Übername: 'God's Banker'. In Wahrheit ist er ein teuflischer Strippenzieher. Er will Michael Corleone, den Paten persönlich, um sein Erspartes bringen. Helmut Berger spielt diesen Keinszig als die personifizierte Habgier in Mausgrau. Am Ende baumelt die Ratte stranguliert an der Brücke."

Besprochen werden Robert Schwentkes "Seneca" mit John Malkovich als Titelhelden (taz), die Paramount-Serie "Rabbit Hole" mit Kiefer Sutherland als Industriespion (FAZ) und die andere Paramount-Serie "Tulsa King" mit Sylvester Stallone als einem alten Mafiaboss, der aus dem Gefängnis entlassen wird (SZ).
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Musik

Die vornehmste Mission des Urheberrechts ist es offenbar, neue Musik zu verhindern, die mit altem Material spielt. Jörg Häntzschel erzählt in der SZ, warum die berühmte, ja klassische Rapgruppe De la Soul bisher bei den Musikstreamingdiensten fehlte - und nun nach langer Abwesenheit vorkommen darf. Die Rockgruppe Turtles hatte irgendwann gegen sie geklagt, weil De la Soul sieben Sekunden von ihnen gesamplet hatte. Dabei, so Häntzschel, waren gerade De la Soul bei ihren Samplings immer schon auf Genehmigungen aus (der Rechtsstreit soll den Turtles 1,7 Millionen Dollar gebracht haben). Das Sampling kam in den Achtzigern im Rap auf, wo es meist noch in aller Unschuld betrieben wurde. Dann kam die Bürokratisierung. Und so sieht musikalische Kreativität heute aus: "Als um die Jahrtausendwende im Musikvertrieb das digitale Zeitalter begann, war die Konfusion dann perfekt. Denn selbst die existierenden Sample-Vereinbarungen hatte man in der Regel nur für physische Tonträger abgeschlossen, nicht für Downloads oder gar Streams. Was man narrensicher ins Netz stellen wollte, musste vorher also nachverhandelt werden. Bei aufwendig gepatchworkter Musik wie dem frühen Hip-Hop bedeutete das einen Sisyphus-Job. Aufwendige Recherchen, zig Anfragen, viele Anwaltsbriefe."



Mit letzter Not sind die BBC Singers und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien gerettet worden. Aber eine Entwarnung ist das für die Ensembles der öffentlich-rechtlichen Sender nicht, warnt Axel Brüggemann in seinem Crescendo-Newsletter: "Umso wichtiger, auch für deutsche Rundfunkorchester, sich eindeutig zu positionieren, als Spitzen-Ensemble mit Breitenwirkung wie das BRSO oder als Orchester, das wirklich nahe bei den Menschen ist. Können die Orchester von WDR, NDR oder SWR diese Antworten überzeugend geben? Vor allen Dingen aber ist es die Verantwortung der Rundfunk- und Fernsehsender, ihre Ensembles im Programm wieder sichtbar zu machen: Schafft neue Radio-Opern, bindet die Orchester mehr in Kinderprogrammen ein - zeigt die Orchester, wo immer sich eine Chance im Fernsehen bietet."

Außerdem: Julian Weber berichtet für die taz vom Weltmuskifestval "Babel Music" in Marseille. In Zeit online wird das Album "Am Wahn" des Liedermachers Tristan Brusch besprochen. Ein Auszug:

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