Zwei homosexuelle Männer suchen nach einem Ausweg aus ihrem Doppelleben

Die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo veröffentlicht mit «Mr. Loverman» einen ebenso witzigen wie tiefgründigen Ehe- und Liebesroman.

Rainer Moritz 3 min
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Die Schriftstellerin Bernardine Evaristo verhilft in ihrem Roman zwei älteren schwulen Männern zu unerwarteter Selbsterkenntnis.

Die Schriftstellerin Bernardine Evaristo verhilft in ihrem Roman zwei älteren schwulen Männern zu unerwarteter Selbsterkenntnis.

Jennie Scott

Was soll ein Verlag tun, wenn sich das Personal eines Romans politisch unkorrekt verhält? Wenn es keinen Volkshochschulkurs besucht hat zum Thema «Wie spreche ich richtig, ohne irgendjemandem auf der Welt auf die Füsse zu treten»? Der Stuttgarter Tropen-Verlag muss sich mit einem solchen Problem herumschlagen. Im neuen – bereits 2013 im englischen Original erschienenen – Roman seiner Starautorin Bernardine Evaristo wimmelt es von Sätzen, die jedes auf Sensibilität geeichte Lektorat erzittern lassen.

Die meisten dieser Sätze gehen auf das Konto von Barrington Walker, Barry genannt, ein Mann von Mitte siebzig, der sich nicht scheut, Frauen als «Schreckschrauben» zu bezeichnen und sich über die Attitüden von Homosexuellen lustig zu machen. Das alles hat den deutschen Verlag so alarmiert, dass er eine Warnung ins Impressum einrückt: «Sprache und Sprachgebrauch in diesem Roman folgen der Figurenrede. Die Übersetzung orientiert sich bei kritischen Ausdrucksweisen, Sprachfärbungen und Vergleichen eng am Original.»

Falscher Verdacht

Zum Glück ist dieser alberne Hinweis im sehr Kleingedruckten versteckt und wird niemanden davon abhalten, «Mr. Loverman» zu lesen. Was allemal lohnend ist. Denn Evaristo, die 2019 für «Mädchen, Frau etc.» als erste schwarze Autorin den Booker Prize erhielt, versteht es vorzüglich, die Widersprüche der englischen Gegenwartsgesellschaft aufzuzeigen.

Barry und sein gleichaltriger Freund Morris stammen von der Karibikinsel Antigua, die sie in den 1960er Jahren verliessen, um im vermeintlichen Eldorado London ihr Glück zu suchen. Während Morris auf eine gescheiterte Ehe zurückblickt, ist Barry seit einem halben Jahrhundert in der seinen aufs Unglücklichste verfangen. Die beiden Töchter Donna und Maxine gehen längst ihre eigenen Wege, doch im schönen, im Londoner Stadtteil Hackney gelegenen Haus – Barry hat es mit Immobilien zu Wohlstand gebracht – will sich partout kein Ehefrieden einstellen.

Der Roman setzt mit einer drastisch-komischen Schlafzimmerszene ein. Der betrunkene Barry kommt erst spätnachts heim und muss sich von seiner Frau Carmel Schimpftiraden anhören. Sie ist überzeugt, dass ihr Mann sie dauernd mit anderen Frauen betrügt. Es ist, wie sich bald zeigt, ein fataler Irrtum. Denn Barry war gewiss nie ein verlässlicher Ehemann, doch seine Untreue ist anderer Natur: Während er zu Hause einen schwach ausgeprägten Geschlechtstrieb vortäuscht, ist er seit Jahrzehnten mit seinem Freund Morris zusammen.

Im fortgeschrittenen Alter erwägt Barry ernsthaft, sich scheiden zu lassen und mit Morris zusammenzuziehen. Ob er diesen Schritt – aller daraus folgenden gesellschaftlichen Ächtung zum Trotz – wirklich wagen wird, macht den Spannungsbogen des Romans aus. Im Klandestinen waren die beiden «pensionierten karibischen Gentlemen» bis dahin perfekt durchs Leben gekommen. Doch etwas ganz anderes wäre es, die Homosexualität offen auszuleben – und Carmel grausam zu brüskieren.

In Widersprüchen verstrickt

«Mr. Loverman» spielt zu grossen Teilen im Jahr 2010 und taucht in Rückblenden bis in das Jahr 1960 zurück, als alle drei Protagonisten noch auf Antigua lebten. In temporeichen und oft sehr witzigen Erzählsequenzen und pointierten Dialogen breitet der Roman das Familienleben aus, das von Anfang an auf Betrug basierte. In stilistisch deutlich abgesetzten inneren Monologen öffnet sich Carmels Innensicht, sie schildert ihr Leben, das einerseits religiös geprägt war, während sie es andererseits mit der ehelichen Treue auch nicht besonders genau nahm.

Bernardine Evaristo macht in «Mr. Loverman» die Handlungen der Figuren nicht zuletzt aus ihrer gesellschaftlichen Verankerung plausibel. Sie zeigt, wie Barry und Morris allen rassistischen Vorurteilen in England trotzen oder wie sich Barrys Selbstverständnis als Schwuler im Alter seinerseits erst von Vorurteilen befreien muss. Das sind klug miteinander verwobene Facetten eines komplexen, bald nachdenklich, bald heiter stimmenden Ehe- und Liebesromans.

Zu dessen Struktur gehört es, dass nicht alle Figuren in gleichem Masse zu Wort kommen. Seltsamerweise gelingt es Evaristo nicht immer, ihre Frauenfiguren so differenziert wie den eleganten, nie um eine spitze Bemerkung verlegenen Barry zu zeichnen. Vor allem seine etwas verrückten Töchter Donna und Maxine bleiben blass. Im Vordergrund steht der Loverman Barry. Er ist der prototypische Held mit harter Schale und weichem Kern. Übelnehmen kann man Barry wenig. Auch Kotzbrocken haben sympathische Seiten. Das gibt Evaristos Roman zuletzt einen fast zu versöhnlichen Ton.

Bernardine Evaristo: Mr. Loverman. Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen-Verlag, Stuttgart 2023. 331 S., Fr. 33.90.

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