Unter Wilden

Besuch im Nachkriegsdeutschland in Gabriele Tergits Roman „Der erste Zug nach Berlin“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahrzehnten werden die Romane und Gerichtsreportagen der in der Weimarer Republik ebenso bekannten wie erfolgreichen Journalistin Gabriele Tergit neu aufgelegt. Zuletzt erschien ihr Roman Der erste Zug nach Berlin – im Prinzip eine Erstveröffentlichung, denn wie seine Herausgeberin Nicole Henneberg im Nachwort erklärt, hatte die im Jahr 2000 von Jens Brüning edierte Ausgabe nicht allzu viel mit Tergits Nachlass-Text zu tun. Der damalige Herausgeber hatte immer wieder stark in das Manuskript der Autorin eingegriffen, etwa indem er „bewusst eingesetzte Zweideutigkeiten und ausgefranste Ränder des Originals […] beseitigt“, manche „Halbsätze gestrichen“ und andere eingefügt hat. Auch hat er die zahlreichen und teils umfangreichen englischsprachigen Passagen in deutscher Übersetzung wiedergegeben; und dies nicht selten verfälschend, wie Henneberg zeigt. Manche von Tergits Wortspielen sind im Deutschen kaum wiederzugeben und gehen in der Übertragung verloren. So etwa im Falle eines Dialogs, in dessen Verlauf ein Amerikaner erklärt, er sei „Democrat and Prebyterian“ und ein durch die Nazi-Schule gegangener Deutscher nachfragt: „What an Aryan?“

Angesichts dessen ist es umso erfreulicher, dass nun erstmals eine textgetreue Ausgabe von Tergits vermutlich Anfang der 1950er Jahre verfasstem Nachlassroman vorliegt, in der nicht nur die Zweisprachigkeit des Manuskriptes beibehalten wird, sondern auch der oft „ruppige und lapidare Stil“ unangetastet bleibt. Dies ist deshalb so wichtig, weil Tergit beide ganz bewusst als „ein spezielles Stilmittel“ einsetzte.

Die Schriftstellerin hat ihren Roman in einem wohltuend unpretentiösen Stil geschrieben, wie es der Sprache einer jungen und recht naiven Ich-Erzählerin namens Maud entspricht. Diese ist gerade 19 Jahre alt, eine angehende Journalistin aus New York und geht ganz in der materialistischen Ideologie der US-amerikanischen Konsumwelt auf. Die Gelegenheit zur Reise nach Deutschland eröffnet sich ihr einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs (noch vor der Gründung der DDR) durch einen Onkel, der einer kleinen Delegation angehört, die den Deutschen die Demokratie nahebringen soll, woran diese aber herzlich wenig interessiert sind.

Aus Mauds Sicht wird die zunächst über England, dann mit dem Zug durch den europäischen Kontinent nach Deutschland und schließlich zum Zielort Berlin führende Reise geschildert. Unterwegs stößt die Reisegruppe auf einige originelle Charaktere wie etwa „Abraham Lincoln, the leader of ‚The Color-Conscious Negroes’“, der die Nase vom Kampf für „equal rights“ in den USA voll hat und die Lösung in einem eigenen afrikanischen Territorium sieht, da er sich und die seinen zu den einzigen „faithful Christians“ erklärt, wohingegen die USA voller „pagans“ seien.

Schon bald nach der Ankunft in der deutschen Hauptstadt fällt die zuhause verlobte Maud auf die Avancen des erstbesten Nazis herein und hat „das Gefühl, dass das alles richtig war, was er sagte“. Als er sie schon bald für ein anderes junges Mädchen sitzen lässt, sucht Maud die Schuld bei sich und fragt sich, was sie „falsch gemacht hatte“. Später begegnet sie in einem der Elendsviertel des zerbombten Berlins Menschen, die ihr „eine Mischung aller Rassen“ zu sein scheinen, was sie zu der Überlegung gelangen lässt, dass Hitler „ganz offenbar für Rassenmischung eingetreten“ war. Überhaupt ermöglicht die Naivität der Ich-Erzählerin satirische Bemerkungen, ähnlich denjenigen die Irmgard Keun den Protagonistinnen ihrer Vorkriegs-Romane in den Mund gelegt hat. Allerdings ist Tergits Humor um einiges galliger. Dies zeigen etliche entlarvende Bemerkungen anderer Figuren, die beispielsweise sowohl den Antisemitismus der deutschen Nazis wie auch den der US-Amerikanischen Gäste hervortreten lassen.

Ansonsten haben nicht nur die junge Protagonistin, sondern auch die anderen Angehörigen der Delegation in mancherlei Hinsicht merkwürdige und nicht selten befremdliche Ansichten. Etwa, dass es in den USA ungefähr 500 Zeitungen mit insgesamt drei Kommentatoren gebe, „die von Zeit zu Zeit, nach vorheriger Besprechung in ihren Meinungen voneinander abweichen und sich gegenseitig angreifen“. „Die Leser lieben das“, erklärt ein Delegationsmitglied, „sie nennen das Freiheit der Meinung“.

Die deutschen Nazis sind ihrerseits wieder ganz obenauf, oder sie haben sich aufs Jammern verlegt und trauern ihrem Verführer nach wie etwa ein Berliner Taxifahrer, der klagt: „Ich habe nichts, nichts mehr auf der Welt. Und nun soll ich auch noch Reue empfinden? Ja Herrgott, gibt’s denn gar keine Gerechtigkeit auf der Welt. Unser Herr Hitler, der im Himmel ist, der hätt das nicht zugelassen, wie es dem deutschen Volk geht…“ Nach den Konzentrationslagern gefragt, versichert er, dort sei „alles im Dienst geschehen und auf Befehl. […] Kein Mensch ist in Deutschland außerhalb der Dienstes misshandelt worden.“ Das ist derart naiv und fürchterlich und entlarvend, dass das Lachen darüber nicht einmal bis in den Hals gelangt, um dort stecken zu bleiben.

Maud wiederum macht in den wenigen Monaten ihres Berlin-Aufenthaltes ein paar Erfahrungen, die sie endlich zu verändern scheinen, sodass das Buch fast als Entwicklungsroman gelesen werden könnte. So lernt sie am Sterbebett eines Journalisten, der im KZ schwer misshandelt wurde, „das andere Deutschland“ kennen – ein einschneidendes Erlebnis, das ihr die Augen zu öffnen scheint. Nach ihrer Rückkehr in die USA ist sie aber wieder ganz die Alte, eben jene junge Frau der upper class, die ohne zu zögern den ihr vorgeschriebenen Weg in eine wohlsituierte Ehe mit ihrem Verlobten beschreitet.

Manche der den Figuren in den Mund gelegten Aussprüche klingen erschreckend heutig. So konstatiert eine der Figuren etwa: „Wenn man die Menschen daran gewöhnt hat, dass im allgemeinen gelogen wird, braucht nichts mehr wahr zu sein.“ Ein Befund, der Donald Trump zur Inspiration gedient haben könnte. Ziemlich sicher aber dürfte er nie von dem Buch gehört, geschweige denn einen Blick hineingeworfen haben. Dabei ist der Roman doch wärmsten zu empfehlen: zum Amüsement, zum Gruseln und nicht zuletzt als kleines Sittengemälde Nachkriegsdeutschlands.

Titelbild

Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin. Roman.
Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
208 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783895614750

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