Zwischen Chopin und Dante

Der neuer Roman „Der Pole“ von Nobelpreisträger J. M. Coetzee bringt große Emotionen auf wenige Seiten

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als einen „Akt des Widerstands gegen die kulturelle Hegemonie des Nordens“ hat Nobelpreisträger John Maxwell Coetzee den Umstand bezeichnet, dass sein neuer, schmaler Roman Der Pole zuerst auf Spanisch in einem argentinischen Kleinverlag erschienen war. Ein Buch über Liebe und Tod, über Musik und Poesie – ein kleines Werk mit ganz vielen hintersinnigen Zwischentönen und reichlich Anspielungen auf Dante und Chopin.

Wie bei Dantes Beatrice haben wir es auch bei Coetzees Protagonistin Beatriz um eine Frau aus wohlhabender Bankiersfamilie zu tun. Als Mäzenatin eines elitären Musikkreises in Barcelona verbringt sie das Gros ihrer Freizeit. Eines Tages ist der polnische Pianist Witold Walczykiewicz bei Beatriz‘ zu Gast – ein Mann, der die siebzig schon überschritten hat und der seine Künstlermähne offensichtlich wie ein Markenzeichen pflegt. Als er vor dem Kreis wohlhabender, aber zumeist unbedarfter Musikfreunde in Barcelona mit seiner Chopin-Interpretation auftritt, missfällt der Gastgeberin die künstlerische Darbietung. Sie kritisiert Witolds „Härte“ und die fehlende chopinsche Leichtigkeit. Der betagte Pianist fühlt sich trotz der harschen Kritik von Beatriz („der Engel, der in Barcelona über mich wachte“) auf seltsame Weise angezogen, ja beinahe betört. „‚Werte Dame‘, sagt der Pole, ‚Sie erinnern sich doch an Dante Alighieri, den Dichter? Seine Beatrice schenkte ihm nie ein Wort, und er liebte sie sein Leben lang.‘“

„Coetzee porträtiert die Teilhaftigkeit des Menschen an der Vielfalt des Daseins in oft überrumpelnder Weise“, hieß es in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, als ihm 2003 die wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt verliehen wurde. Von Coetzee, der am 9. Februar 1940 in Kapstadt als Sohn eines Rechtsanwaltes und einer Lehrerin geboren wurde und seit vielen Jahren in Adelaide lebt, war zuletzt 2020 der Roman Der Tod Jesu in deutscher Übersetzung erschienen. Ebenso anspielungsreich, verspielt und reich an Querverweisen wie das neue Buch.

Beatriz, die sich häufig langweilende Bankiersgattin, genießt es auf stille Weise, plötzlich eine Angebetete zu sein und zeigt sich durchaus empfänglich für Witolds pathetische Liebeserklärungen. Die Crux an dieser ohnehin ziemlich unkonventionellen, zunächst nur platonischen Beziehung: Witold  und seine Geliebte können sich nur in der gemeinsamen Fremdsprache des Englischen verständigen. Witold hat eine Vollendung des Lebens in der Kunst und eine Verschmelzung der Seelen im Sinn.

„Sie denkt daran, wie es wäre, das Bett mit diesem riesigen Knochengerüst zu teilen, und schaudert vor Abscheu. Diese kalten Hände auf ihrem Körper.“ Doch der Reiz des Fremden ist bei Beatriz stärker. Sie „flüchtet“ für ein kurzes, wenig aufregendes Liebesabenteuer mit Witold nach Mallorca – George Sand und Frederic Chopin lassen aus der Kartause von Valldemossa grüßen.

Einige Jahre nach Witolds Tod erhält Beatriz aus Polen die Nachricht über ein Erbe. 84 auf polnisch verfasste Gedichtmanuskripte, die sie sich später übersetzen lässt, warten auf sie. Was empfindet Beatriz, als sie sich selbst als Kunstgegenstand versprachlicht und stark heroisiert in Witolds Versen begegnet?

Der Pole ist ein federleichter Künstlerroman mit elegischer Hintergrundmusik. Und doch ist der nicht einmal 150 Seiten umfassende Text noch sehr viel mehr – ein poetisches Büchlein über große Emotionen zwischen Überschwang und Traurigkeit, voller Sehnsüchte und Enttäuschungen und über den unerfüllten Traum von der Verschmelzung zwischen Kunst und Liebe.

Titelbild

John Maxwell Coetzee: Der Pole. Roman.
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
144 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103975017

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