Aus Bäumen kann man Bücher machen. Das weiss jedes Kind. Über Bäume Bücher zu schreiben: Das braucht literarisches Genie
Der österreichische Schriftsteller Bodo Hell ist der Berggänger unter den Dichtern. Von seinen jüngsten Gängen in die Natur kam er mit einem exquisiten Vokabular nach Hause.
Bodo Hell erweitert in der Natur seinen Wortschatz – und schreibt ein zauberhaftes Buch der Bäume.
Wenn es Landkarten gibt, auf denen die Welt nicht verkleinert, sondern vergrössert ist, dann ist er ihr Kartograf: Bodo Hell, der österreichische Schriftsteller. Seit Jahrzehnten arbeitet Hell an einem wahnwitzig schönen und detailreichen Werk, das das Wesen der Natur und des Menschen neu vermisst. Dass es diesmal um Bäume geht, kommt vielleicht nicht von ungefähr.
In knorriger Verlässlichkeit ist das Werk des mittlerweile Achtzigjährigen gewachsen und hat sich vielfach verzweigt. «Begabte Bäume» heisst das neue Buch. Es ist enzyklopädisch, genau wie sein Autor. Bodo Hell lebt schreibend in der Stadt, aber einen guten Teil des Jahres auch als Almbewohner auf dem Land. Er ist Senner und Käser. Und Wanderer.
Wo der Wolkenrüssel wütet
Im Buch «Begabte Bäume» kann man Itinerare nachlesen, Verzeichnisse von Wegen, die durch ahornbestandene Landschaften führen, durch alte steirische Kurgebiete oder über den Schauplatz einer meteorologischen Kuriosität. Ein Tornado fegte 1916 durch die niederösterreichische Mittelgebirgslandschaft und hinterliess einen Schadenspfad. Beim Nachwandern der Tornadoschneise und in der Sprache erzeugt Bodo Hell noch einmal den historischen Ausnahmezustand der Elemente.
Den «Gewitterböenfrontwirbel (Gustnado)», den Wolkenrüssel oder Wolkenschlauch, den man von Tornados kennt, die Staubaufwirbelungen und das starke Brausen bei der Annäherung. Es tobt der Sturm in Bodo Hells Sprache. Wörter und Sätze werden durch die Grammatik der Natur zu einem urwüchsigen Ereignis, und so hat man immer das Gefühl, mittendrin zu sein.
Bei einer Wanderung durch den Wienerwald entspannt sich die Lage elementarer Aufpeitschung, aber es wird von Bodo Hell auch an den Autor Ödön von Horváth erinnert, der die «Geschichten aus dem Wiener Wald» geschrieben hat und tragischerweise 1938 auf den Champs-Élysées in Paris von einem herabfallenden Ast erschlagen wurde. Auch zu solchem dämonischem Drama sind Bäume begabt.
Bodo Hell ist ein Schamane des Schauens. Sein enormes Wissen reichert des Gesehene an und wird Teil eines spielerischen Schöpfungsakts. Neben seinen Itineraren nimmt sich Bodo Hell einen Baum nach dem anderen vor. Er erzählt von realen Bäumen, von mythologischen und metaphorischen. Nach dem Ahorn kommt gleich der Baum der Erkenntnis, und von da geht es weiter über Birke, Buche, Eibe, Eiche, Esche bis zu Weide und Zirbe.
In der Hellschen Botanisiertrommel fangen sich zur Linde auch menschlich-wortmorphologische Abkömmlinge wie die Gerlinde und die Dietlinde. Werkzeuge der Holzbearbeitung, zum Beispiel die traditionellen steirischen Schrägsappeln oder auch Halbkrainersappeln, werden gewürdigt. Neben diesen Spitzhacken wird man von Bodo Hell auch sanft in einen Verwertungskreislauf eingeführt, der Spezialwissen erfordert.
Hölzerne Bücher
Zirbenholz hat einen schädlingsabwehrenden Duft, weshalb alte Klöster zwischen ihre wertvollen Folianten auch Buchattrappen aus ebendiesem Holz stellten. Das Rezept für harzig schmeckenden Zirbenzapfenlikör («für spezielle Liebhaber gut trinkbar») liefert der Autor noch obendrein. Auch aus Berberitzen könnte man Likör machen, aber bei diesem Gewächs erinnert sich Bodo Hell gern an seine «Juvenilumgebung», wo die üppig gelbblühenden Sträucher auf Salzburger Wiesenhängen standen.
Der «gesteigerte Affekthaushalt des Landschaftsverschlingens», der in Bodo Hells Buch eine grosse Rolle spielt, wird nie zur Heimatfolklore. Natur und Kultur stehen für den Schriftsteller in einem Produktivverhältnis der Phantasie. Dass man aus Bäumen Bücher wie «Begabte Bäume» machen kann, ist ein Beweis für die Begabtheit der Bäume. Genauso aber ist es ein Beweis für das Genie Bodo Hells.
Bodo Hell: Begabte Bäume. Mit Zeichnungen von Linda Wolfsgruber. Literaturverlag Droschl, Graz 2023. 216 S., Fr. 36.90.
