Tohuwabohu – ein Buch wie am ersten Tag

Daniel Hoffmanns wichtigem Buch über jüdische Poesie fehlt es an Geleit

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann Daniel Hoffmann gar nicht genug danken für den Einblick in jüdische Poesie, die er uns mit seinem Buch gewährt. 38 lyrische Texte des Judentums hat er versammelt, wobei die Bandbreite von biblischen und liturgischen Texten der Antike und des Mittelalters bis hin zu modernen Gedichten vom Ende des 20. Jahrhunderts reicht. Hoffmann möchte zeigen, dass sich der poetische Geist des Judentums, der sich in frühen lyrischen Texten findet, auch in der deutschsprachigen Poesie von Jüdinnen und Juden des 20. Jahrhunderts entdecken lässt. Unabhängig von der literaturwissenschaftlichen Perspektive, die er als Germanist und außerplanmäßiger Professor mit Schwerpunkt für deutsch-jüdische Literatur ohne Frage hat, ist allein das Versammeln dieser sehr heterogenen Texte von größtenteils weniger bekannten Autor*innen ein Schatz. Einerseits.

Andererseits hätte es dem Buch gutgetan, vor der Veröffentlichung noch ein wenig poliert zu werden. Um im Bild der Poesie zu bleiben: während der Lektüre finden sich immer wieder Punkte, die wie ein unpassender Reim oder ein schiefes Metrum für den Gesamteindruck störend sind. Das wäre kein Problem, würde es sich auf Kleinigkeiten beschränken wie falsche Veröffentlichungsdaten (Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie erschien 1782/83 und nicht wie im Buch behauptet 1774), falsche Titel (der zitierte Gedichtband von H. G. Adler heißt Stimme und Zuruf und nicht Stimme und Eingeständnis) oder schlicht vergessene Leerzeilen zwischen zwei Strophen wie bei Nelly Sachs’ Vertriebene. Das ist ärgerlich und spricht entweder nicht unbedingt für die Profession des Lektoriats oder mahnt, für eine zu wünschende zweite Auflage, zu einer genauen Textdurchsicht.

Das größere Problem ist aber eine Inkonsistenz im analytischen Ansatz Hoffmanns. In seiner Einleitung rühmt der Autor (durchaus zu Recht) die poetische Kraft der lyrischen Texte und stellt die Poesie, losgelöst vom Poeten, in den Vordergrund. Wir sollen die Gedichte selbst lesen und dabei Zeitumstände, Lebensgeschichte des Autors und Rezeption weitestgehend außen vor lassen. Ein schöner Grundsatz. Nur hält sich Hoffmann selbst nicht an dieses Prinzip. Kaum eine Textanalyse kommt ohne biografischen Verweis, ohne Rezeptionsgeschichte, ohne ergänzende historische Ereignisse oder Zeitumstände aus. Ohne Frage sind diese Informationen interessant – aber sie vernebeln die Kraft der lyrischen Texte. Leider vertraut Hoffmann offenbar selbst nicht ganz dem von ihm so beworbenen poetischen Geist. Das zweite analytische Problem ist eine fehlende Basis. Seine Kernthese ist spannend und lautet: „Der poetische Geist des jüdischen Volkes, der sich in seinen frühesten Urkunden ausgesprochen hat, wird als Kern einer jüdischen Dichtung auch heute noch präsent sein“. Was für die folgende Analyse der Gedichte des 20. Jahrhunderts aber unbeantwortet bleibt, ist die Frage nach diesem poetischen Geist. Dazu bietet Hoffmann nichts an. Wonach sollen wir in der heutigen Dichtung Ausschau halten, um seine These zu stützen? Hoffmanns rote Linie sind im weitesten Sinne religiöse und liturgische Themen, anhand derer er die Gedichte ausgewählt hat. Und tatsächlich wirken die Bezüge in den Gedichten wie ein Best-of der Thora und der jüdischen Religion: Hiob, Jakob, David, Moses, Bileam, Kain, Gebetbücher, die 10 Gebote, der Exodus, das Kaddisch, Pessach, Sukkot, Jom Kippur … aber ist der poetische Geist des Judentums lediglich sein religiöser Anknüpfungspunkt? Hoffmann lässt diesen zentralen Aspekt und damit auch die Antwort auf seine These offen. Da ist es nur folgerichtig, dass das Buch mit einem Gedicht und leider nicht mit einer abschließenden Einordnung durch den Autor endet. Angesichts des Titels Sei Du mein Geleite hätte man sich genau das auch vom Autor gewünscht.

Den Genuss wunderbarer Gedichte schmälern diese ärgerlichen Punkte indes kaum. Hoffmann hat auch zu vielen interessante Anekdoten zu erzählen, er vermittelt spannende Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums (z. B. die poetische Verarbeitung der Abwendung von der Religion angesichts der Shoa) oder überraschende Neuinterpretationen der 10 Gebote oder der Rolle von Kain. Dabei zeigt sich auch Hoffmanns beeindruckendes Wissen über das Judentum, mit welchem er auch kleinste versteckte Anspielungen in den Texten aufspürt und erläutert. Gleichermaßen fesselnd sind die älteren Texte und die modernen Gedichte, auch wenn es ein wenig verwundert, dass nur ein lyrischer Text aus der Thora selbst dabei ist. Insgesamt ist Hoffmann allein mit der Zusammenstellung und Veröffentlichung der Gedichte ein wunderbarer Band gelungen, der eine besondere Facette des Judentums beleuchtet. Wenn eine zweite Auflage etwas mehr lektorische Sorgfalt erhält, ist dieses Buch ein Muss für Lyrik-Liebhaber.

Titelbild

Daniel Hoffmann: ‚Sei du mein Geleite‘. Zur Poesie des Judentums im 20. Jahrhundert.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
156 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826075728

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