Die Berserkerin der Liebe und der dämonisch kluge Muttersohn – die Notiz- und Tagebücher von Marina Zwetajewa und Georgij Efron sind aufwühlend und ergreifend

Die geniale russische Schriftstellerin Marina Zwetajewa war eine Frau von exaltierten Leidenschaften, hineingeboren in eine Welt, der das Mass des Menschlichen gänzlich abhandenkam. So wie sie im Leben tragisch verbrannte, so scheiterte auch ihr Sohn Georgi Efron. Beide haben Tagebücher verfasst, die hellsichtiger nicht sein könnten.

Franz Haas 8 min
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«Eine anständige Frau ist – keine Frau.» – Marina Zwetajewa. Datum der Aufnahme unbekannt.

«Eine anständige Frau ist – keine Frau.» – Marina Zwetajewa. Datum der Aufnahme unbekannt.

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Über das Leben und Sterben von Marina Zwetajewa (1892–1941) war bisher vieles aus Biografien und Briefen bekannt – von der Geburt in eine begüterten Moskauer Künstler- und Gelehrtenfamilie bis zum Freitod in einer schäbigen Kammer in Tatarstan während der Evakuierung. Neu dazu kommt jetzt auch auf Deutsch eine Auswahl von ergreifenden «Notizbüchern» der russischen Dichterin, exzellent übersetzt und kommentiert von Ilma Rakusa. Ebenso erhellend sind die fast gleichzeitig erschienenen «Tagebücher» ihres Sohnes Georgij Efron (1925–1944), dieses dämonisch intelligenten Teenagers, dem die Zeitläufe übel mitgespielt haben. Er hat sein Leben, den Untergang seiner Mutter und den historischen Hintergrund in der Sowjetunion von 1940 bis 1943 mit herzzerreissender Schärfe kommentiert.

Die «Notizbücher» der 21-jährigen Dichterin beginnen 1913 in einer fast heilen Welt; in der «riecht es nach Russland, nach Sommer, nach dem Dorf». Da hat Marina Zwetajewa schon drei Gedichtbände veröffentlicht, sie liebt ihren Mann Sergei Efron und vergöttert ihr einjähriges Töchterchen Ariadna, deren erste Laute sie entzückt kommentiert (im russischen Original sind die Notizen viel länger, seitenweise garniert mit Wörtern der Babysprache und Haushaltslisten). Die vielen schlimmen Gewitter späterer Lieben – zu einigen Frauen und zahlreichen Männern – scheinen noch fern. Doch die Leidenschaften für Sofia Parnok («die erste Katastrophe») und Ossip Mandelstam («Lichtengel! Junger Adler!») sind schon schrecklich nahe.

Verfinsterung der Welt

Der Erste Weltkrieg kommt in diesen selbstversponnenen Notaten gar nicht vor. Erst im November 1917 steht in Klammern: «(In Moskau ist Aufstand.)» Und von da an verfinstert sich die Welt von Marina Zwetajewa, auch weil ihr Mann im Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken kämpft und sie ihn jahrelang nicht sehen wird. Zudem wird ihre zweite Tochter Irina geboren, dieses «Zufallskind», das ihr immer fremd bleibt – bei einer schockierenden Lieblosigkeit, die an Misshandlung grenzt. Als die Kleine drei Jahre später in einem Kinderheim an Unterernährung stirbt, hat die Mutter Gewissensbisse und notiert trotzdem: «Im Leben habe ich sie nie geliebt.»

Marina Zwetajewa mit ihrem Mann Sergei Efron, Sohn Georgi und Tochter Ariadna (um 1925 in Prag).

Marina Zwetajewa mit ihrem Mann Sergei Efron, Sohn Georgi und Tochter Ariadna (um 1925 in Prag).

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Zu welchem Unmass an Liebe Marina Zwetajewa andererseits fähig war, das sollte sich in den folgenden Jahren zeigen. An erster Stelle steht immer ihr ferner Mann im Krieg, dem sie in einem Briefentwurf verspricht: «Serjoshenka, wenn Gott ein Wunder wirkt und Sie am Leben erhält, gebe ich Ihnen alles: [. . .] Ich werde Ihnen folgen wie ein Hund.» Dieses Gelübde hält sie lebenslang ein, folgsam und blind selbst vor dem stalinistischen Horror. Trotzdem ist sie nicht gefeit gegen andere Lieben, auch nicht in den Hungerjahren nach der Revolution, «inmitten von allerlei Pest in Moskau». Unentwegt verliebt sie sich, hat «schweigsame Wortorgien» im Kopf und Tumult in der Seele, wegen der Schauspielerin Sonja Holliday oder des Malers Nikolai Wyscheslawzew, der aber lau bleibt und sie wie «ein besonderes Tierchen» behandelt: «So streichelt man Katzen und Vögel . . .»

Die Notizbücher sind Marina Zwetajewas Klagemauer. Als «Stenografin des Lebens» ist sie sich ihres literarischen Ranges immer bewusst, selbst wenn sich in ihrem Dachbodenleben alles nur um Brot und Brennholz dreht, und doch nagt manchmal der Zweifel: «Da es Puschkin gibt, wozu braucht es Zwetajewa?»

Andere Hausgötter sind Casanova und Goethe, Hofmannsthal und Rilke. Ihre Entflammbarkeit für ferne und nahe, vermeintliche und wahre Genies ist sagenhaft und entlädt sich mitunter im Frust: «Kirke hat Helden in Schweine verwandelt, ich verwandle Schweine in Helden.» Unerwidert bleibt auch ihr Werben um Alexander Blok, ein gedichtetes Strohfeuer, das nicht wirklich zündet. In anderen Fällen tröstet sich diese Berserkerin der Poesie und der Liebe mit koketten Aphorismen: «Eine anständige Frau ist – keine Frau.»

Als der Schriftsteller Wjatscheslaw Iwanow («er ist um die 60») sich um den «vakanten Platz» an der Seite der 28-Jährigen bewirbt, ist sie pikiert und vertieft trotzdem die Freundschaft zu ihm. Er rät ihr, einen Roman zu schreiben, aber Zwetajewa wimmelt den Gedanken ab: «Meine Leidenschaft sind jetzt die Notizbücher», schreibt sie 1920 ins Notizbuch wenige Monate nach dem Hungertod ihrer kleineren Tochter. Ausserdem: «Ein grosser Roman – das dauert ein paar Jahre. [. . .] Nein, dann lieber sich erhängen!»

Der Suizid als Ausweg ist eine Konstante in diesen fürchterlich ehrlichen Aufzeichnungen. Ein Trost ist die Gewissheit, «dass ich unvermeidlich durch die Schlinge sterben werde». Mehr als zwanzig Jahre später wird es so weit sein.

Marina Zwetajewa mit ihrem Sohn Georgi Efron.

Marina Zwetajewa mit ihrem Sohn Georgi Efron.

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«Feuerfestes Asbestherz»

Aber noch ist ihre amouröse und poetische Potenz ungebrochen: In Gedichten besingt sie den dandyhaften Kollegen Jewgeni Lann, in den Notizbüchern preist sie ihr eigenes «feuerfestes Asbestherz – im Wasser sinkt es nicht, im Feuer brennt es nicht!». Nur wenig später entflammt sie für einen 18-jährigen Bolschewiken, ein kindlicher Recke, dem sie ein Poem widmet, denn es ist, wie «wenn ein Bär eine Libelle streichelte – es könnte zärtlicher nicht sein». Das weckt sogar wieder den Kinderwunsch in ihr: «Ich bin versessen auf einen Sohn.» Aber bis es dazu kommt, muss sie noch einige Lieben und Jahre der Trennung von ihrem Mann durchstehen.

Eine der spärlichen Nachrichten, dass Sergei Efron noch am Leben sei, und zwar in Prag, erreicht Marina Zwetajewa im Juli 1921. Danach klafft eine Lücke im Notizbuch. Über Berlin reist sie 1922 mit der Lieblingstochter Ariadna nach Prag, wo die Rumpffamilie nur mühsam überleben kann («Ich esse Brot und lästere»). Der geistige Einklang der Eheleute ist sofort wieder da, wie ein witzig-spöttisches Duett von Kommentaren zu einem Vortrag von Rudolf Steiner zeigt, dem anthroposophischen Guru und «Hellseher». Doch erneut lauert der Dichterin eine andere Liebe auf.

Schon wieder ist es ein «Gott», schon wieder «der Einzige», noch dazu ein Freund ihres Mannes und wie dieser ein ehemaliger Weissgardist und zukünftiger Sowjetspion: Konstantin Rodsewitsch wird noch Jahre um ihr Leben kreisen, aber so richtig schlimm ist es nur 1923 in Böhmen. In zwei Poemen besingt sie diese Liebe und befreit sich als «Luder mit den Feuerlocken» auch von diesem «Scheiterhaufen». Noch ein Jahr später und bereits hochschwanger, giftet sie gegen eine Rivalin, eine von «den Dutzendfrauen» des einst Angebeteten, so dass es nicht verwundert, wenn unter Bekannten Zweifel an der Vaterschaft ihres Ehemannes aufkommen, als im Februar 1925 ihr Sohn Georgij bei Prag zur Welt kommt, bevor die Familie nach Paris weiter emigriert.

Noch im Wochenbett schreibt Marina Zwetajewa enigmatisch davon, wie es ist, wenn «man in den Verrat schaut». Dann folgt die grösste Lücke in diesen «Notizbüchern», sieben Jahre, in die zwar der Briefwechsel mit Pasternak und Rilke, die Bekanntschaft mit Majakowski und der Überlebenskampf im Pariser Exil fallen, die aber auch ausgefüllt waren von der Ankunft des neuen Lieblingskindes: Georgij Sergejewitsch Efron, von allen «Murr» genannt, nach dem Kater von E. T. A. Hoffmann – «Was für ein hinreissender Junge!» Der liest schon mit sieben Jahren der versammelten Familie «Die toten Seelen» von Gogol vor: ein blitzgescheiter Muttersohn, in den Marina Zwetajewa einen guten Teil ihrer restlichen Lebensenergien investiert, mit bestürzendem Erfolg, wie man in seinen brillanten «Tagebüchern» sehen wird.

Gerangel um ein richtiges Leben

In ihren «Notizbüchern» taucht 1932 erstmals der Gedanke an eine Rückkehr in die Sowjetunion auf, zumal ihr Mann die Seite gewechselt, sich dem sowjetischen Regime angedient hat und die Familie sich unter den russischen Emigranten in Paris schwertut. Als Erste ist die Tochter Ariadna so überzeugt vom Kommunismus, dass sie im März 1937 nach Moskau zieht, im Oktober folgt ihr der Vater in der Hoffnung auf Gnade für seine Schuld als Weissgardist. Im Juni 1939 folgt ihm Marina Zwetajewa «wie ein Hund», gemeinsam mit ihrem Sohn Murr, in die perverse kommunistische Utopie und Falle.

Ihre letzten Notizen beschreiben die Schiffsreise. Zwar fühlt sie sich «wie Napoleon auf dem Weg nach St. Helena», aber was soll’s, auf dem Deck wird gesungen und getanzt – und «Murr ist verzückt». Noch im selben Jahr erlebt Marina Zwetajewa die Verhaftung ihrer Tochter und ihres Mannes – Ariadna wird für Jahre in Gulags verschwinden, Sergei im Oktober 1941 im Gefängnis erschossen. Aber das steht schon auf einem anderen Blatt, nämlich in den unheimlich frühreifen «Tagebüchern» ihres Sohnes Georgij Efron, des 15- bis 18-jährigen Murr aus den Jahren 1940 bis 1943.

Sergei Efron in Odessa im Jahr 1938.

Sergei Efron in Odessa im Jahr 1938.

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Diese mehr als 1300 Seiten in zwei Bänden (dicht beschrieben auf Russisch, teilweise auf Französisch und in der deutschen Ausgabe mit akademischem Fleiss kommentiert) sind ein erschütterndes Dokument zum letzten Lebensjahr von Marina Zwetajewa und zu den ersten Jahren des sowjetischen Alltags im Krieg. Die Aufzeichnungen des stupend gelehrten halbwüchsigen Sohnes fangen ungefähr dort an, wo die der Mutter geendet haben. Mit der Rückkehr nach Moskau und der Verhaftung von Schwester und Vater beginnt der Kreuzweg, auf dem es Georgij nicht nur ums Überleben geht. Er glaubt nicht an die Schuld des Vaters, aber auch nicht an eine böse Absicht von Stalins Geheimpolizei, hofft tapfer auf ein Missverständnis.

Georgij will auch der zusehends verstörten Mutter helfen, möchte sich weiterbilden, zur Schule gehen und sich quer durch die Weltliteratur lesen, «das grossartige Buch ‹Das Schloss› von Kafka», Valéry und Mallarmé, Proust allerdings nur im Geheimen, weil die Mutter glaubt, das sei noch zu früh. Dieses Gerangel um ein richtiges Leben geht mehr schlecht als recht, bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und sie im August 1941 ins tatarische Jelabuga evakuiert werden, ein «armseliges Dorf», wo sich Marina Zwetajewa nach zwei Wochen erhängt.

Da ist Georgij Efron 16 Jahre alt, und der kurze Rest seines Lebens ist ein Horror aus Hunger und Angst vor der Einberufung. Mit verblüffender Bildung und Scharfsinn schreibt er über die weltpolitische Lage, über seine Rückkehr nach Moskau und die erneute Evakuierung nach Taschkent, wo er noch zur Schule geht, hungert und stiehlt, geliebte Bücher verkauft, um zu überleben, darunter auch die seiner Mutter. In Taschkent brechen die «Tagebücher» im August 1943 ab.

Doch aus Briefen ist bekannt, dass Georgij es noch zurück nach Moskau schaffte, dort kurz am Maxim-Gorki-Literaturinstitut studierte, bis er zur Armee eingezogen und in Weissrussland im Gefecht verwundet wurde, wo sich im Juli 1944 seine Spur verlor.

Marina Zwetajewa: Ich sehe alles auf meine Art. Aus den unveröffentlichten Notizbüchern. Herausgegeben, ins Deutsche übertragen und mit Anmerkungen versehen von Ilma Rakusa. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022. 600 S., Fr. 59.90.

Georgij Efron: Tagebücher. Aus dem Russischen und Französischen von Gertraud Marinelli-König. Hollitzer-Verlag, Wien 2022. Band 1 (1940–1941), 764 S., Fr. 75.90. / Band 2 (1941–1943), 548 S., Fr. 61.90.

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