Auf den letzten Seiten von Inga Machels Debütroman Auf den Gleisen spielt sich vor dem Fenster der Berliner Wohnung des Erzählers Mario eine nicht ungewöhnliche Szene ab. Ein betrunkener Mann auf der Straße singt, bettelt, taumelt und bricht immer wieder in Tränen aus. Kurz: Er stört. Die Köchin eines anliegenden Restaurants ruft die Polizei. Mario schaut zu und versucht sich den Alltag des Mannes vorzustellen, zu verstehen, was in ihm vorgeht. Er sieht ihn. Nicht als betrunkenen Versager, sondern als Menschen.

Bis zu diesem Zeitpunkt ist in Machels kurzem Roman einiges passiert. Marios Vater hat nach jahrelangen Depressionen Suizid begangen, woraufhin sein Sohn zeitweise die Kontrolle über sein Leben und – nicht erst jetzt – über das Trinken verliert. In einem Zustand, in dem Rausch und Kater nahtlos ineinander übergehen, verfolgt er heimlich einen heroinabhängigen Mann namens P., beobachtet dessen Streifzüge und dessen stetigen Verfall.

In ihrer Erzählung springt die Autorin immer wieder hin und her, zwischen Marios Erinnerungen an den Vater und seiner Zeit mit P. Auf der einen Seite ist da ein Familienleben, das sich, zumindest von außen betrachtet, im gesellschaftlichen Rahmen des sogenannten Normalen abspielt: Hochzeit und Polterabend, Reisen, Dienstwagen und Abiball mit Auszeichnung für besondere Leistungen. Und, auf der anderen, der Alltag eines Berliner Junkies, vom Pfandflaschensammeln bis zum nächsten Schuss. Scheinen die beiden Lebensrealitäten auch weit voneinander entfernt, so korrespondieren die Erzählebenen doch miteinander, ohne dass Machel je explizite Vergleiche ziehen würde. Warum es P. ist, auf den die Wahl fällt, ob Mario in ihm nun den verstorbenen Vater sieht oder die eigene Zukunft, müssen die Leser für sich selbst entscheiden.

Ein Roman über Suizid und Alkoholismus hätte leicht ins Reißerische oder Kitschige abdriften können. Auf den Gleisen tut das nicht. Weil hier psychische Erkrankung und Sucht keine krassen Ausnahmen sind, sondern zum Leben gehören. Wie die Einsamkeit, die mit ihnen einhergeht. So fühlt sich der Erzähler nicht erst durch den Suizid des Vaters verlassen. Schon vorher spürt er, dass ein nahestehender Mensch ihm fremd bleibt. Dass nicht einmal seine Liebe helfen kann: "Mein Vater, der unglücklich war und verschwand. Vater, der wieder auftauchte, aber unglücklich blieb. Nie änderte die Tatsache, dass ich da war oder dazukam, irgendetwas an seinem Zustand."

Der Romantitel Auf den Gleisen erinnert an zweierlei: den Ort, an dem der Vater Suizid begeht, wo von ihm nur ein Teil seines Winterstiefels bleibt. Und an die geordneten Bahnen, in denen so viele Leben mitunter nur scheinbar verlaufen. Denn die Kluft zwischen beidem ist manchmal nicht so groß, wie man denkt.

Inga Machel: Auf den Gleisen. Roman; Rowohlt, Hamburg 2024;  160 S., 22,– €,  als E-Book 19,99 €