Verwickelte Auswanderer-geschichte und Dialektik des Glaubens. „Jerusalem“ von Selma Lagerlöf.

„Jerusalem“ von Selma Lagerlöf hinterlässt etwas ratlos, zumindest wenn man davon ausgeht, dass der Roman als Geschichte christlicher Auswanderer nach Jerusalem eine Botschaft haben sollte. Der Roman ist radikal zweigeteilt, die erste Hälfte spielt auf dem Dorf und unter schwedischen Bauern, die zweite größtenteils in Jerusalem. Auch das Reinkommen ist nicht ganz leicht, da im Mittelpunkt die Familie von Ingmar Ingmarson steht, der zwei Söhne namens Ingmar hat, die als Söhne von Ingmar wiederum beide Ingmarson heißen. Und aus dieser Generation gibt es wiederum mindestens zwei Söhne, die Ingmar heißen und der große und der starke Ingmar genannt werden. Irgendwann kristallisiert sich dann ein Ingmar aus der jüngsten Generation als die Hauptfigur heraus, aber eine Zeit lang geistern weitere Ingmars noch durch die Geschichte.

Die erste Hälfte ist gesellschaftlich ebenso wie atmosphärisch dicht erzählt. Wir verfolgen verschiedene Handlungsstränge rund um den Ingmarshof und im Dorf, wobei zentral einerseits die Geschichte einer charismatischen protestantischen Sekte steht, und andererseits die Geschichte vom Verlust und Wiedergewinnen des Ingmarshofs, was schließlich dazu führt, dass Ingmar, der sich Gertrud versprochen hat, eine andere Frau heiraten muss, aber Ingmar Gertrud nicht vergessen kann. Gertrud schließt sich daraufhin einer Auswanderergemeinschaft an. Diese Liebesgeschichte wird relativ vertrackt, denn Ingmars Ehefrau ist tatsächlich von Anfang an in Ingmar verliebt, jener aber braucht viele Jahre, bis er sich dann tatsächlich auch in sie verliebt, da will aber sie sich schon scheiden lassen und Ingmar hat die Möglichkeit, Gertrud aus Jerusalem zurückzuholen. Nicht nur liebt diese aber Ingmar mittlerweile nicht mehr, sie steht auch in ihrer stündlichen Erwartung der Rückkehr des Heilands am Rande zum Wahnsinn, und Ingmar glaubt, ihr vorzuspielen zu müssen, er liebe sie noch immer, um sie vor dem Wahn zu retten. Seine Frau spielt ihm derweil vor, ihr Kind sei nicht seines, damit er bereit ist, die Ehe aufzukündigen. Das klingt allerdings alles melodramatischer als es ist. Lagerlöf gestaltet diesen Teil der Erzählung sehr nüchtern, es sind eben nicht vor allem große Gefühle, sondern taktische Erwägungen mit etwas Gefühl, die hinter den Verwicklungen stehen.

Nun sollte man befürchten, dass der zweite Teil ein wenig in der Luft hängt. Lagerlöf hat Jerusalem zwar besucht und mit Auswanderern gesprochen, aber kann natürlich nicht im Ansatz jene tiefe Kenntnis von Land und Leuten aufweisen, die hinter ihren schwedischen Texten stehen. Letztlich aber ist das ganz gut gelöst, indem wir Jerusalem und sein Umland stets nur gefiltert erleben durch die Augen der Ausgewanderten, die dort mit allerlei Problemen zu kämpfen haben, etwa die Enttäuschung, dass die heilige Stadt aus Hütten und Ruinen besteht, die heiligen Kirchen nicht zu vergleichen sind mit dem, was man von zu Hause kennt, und dass Armut weit verbreitet ist. Ein Protagonist weigert sich gar zu glauben, dass man ihn in das richtige Jerusalem gebracht hat, auch Krankheiten raffen größere Teile der Gruppe der Ausgewanderten dahin.

Paradox ist das Verhältnis zur Religion im Roman. Im ersten Teil erscheint die Sekte doch sehr problematisch. Über einen Außenseiter breitet sie sich im Dorf aus, und die Mitglieder sind rigide in ihrer Auslegung des Glaubens, und alle, die Kritik äußern oder auch nur nachdrücklich Fragen stellen, werden als Feinde gesehen, die Kontakte abgebrochen. Familien zerreißen. Die Sekte lässt eine Falsifizierbarkeit ihrer Thesen nicht nur nicht mit den Mitteln der Wissenschaftlichkeit zu (darum geht es im Roman nicht), sondern auch nicht nach den traditionellen Wegen, nach denen sich über Glauben streiten lässt. Damit zeigt das Ganze recht klassische Merkmale von Verschwörungsdenken. Interessant übrigens, dass dieser neue Glaube überhaupt erst Einzug in die Gemeinde erhält durch die Gründung eines Schulhauses, mit dem dem schwach wirkenden Pfarrer teilweise die Autorität entzogen wurde, vor allem mit dem Ziel, die Entstehung genau solcher Häresien durch mehr Glaubensbildung zu verhindern. Das ist in gewisser Weise eine kleinere Kopie jener Dialektik, mit der die Skolastik durch ihr Ziel, Gottes Pläne und die Geheimnisse des Glaubens rational zu begründen und auszulegen, der Aufklärung die Tür geöffnet hat.

In Jerusalem scheint die Sekte dann aber plötzlich, trotz aller Schwierigkeiten, der eindeutige Sympathieträger sein zu sollen. Und auch mit der Rückkehr nach Schweden wird das zwar vielleicht eingeschränkt, aber nicht aufgegeben. Ich frage mich, ob hier Lagerlöf, die sonst eigentlich immer für relativ breite religiöse Toleranz steht und auch unchristlichem Aberglauben, wie den an Naturgeister und Wichtelmännchen, sich stets aufgeschlossen gegenüber gezeigt hat, sich nicht ein wenig selbst hat verführen lassen von der Reise nach Jerusalem, die ihre Figuren unternommen haben.

Der Text ist wie gesagt durchaus lesenswert, wenn ich auch eher kürzere und auf Schweden beschränkte Texte vorziehen würde, um in das Werk der Autorin abseits von Nils Holgersson einzusteigen. Die Löwenskold-Trilogie etwa, „Herrn Arnes Schatz“ oder auch „Liljecronas Heimat“. Wer dann aber mehr sucht von den auch sprachlich-bildlich so starken Darstellungen des meist ländlichen Lebens zwischen Schönheit und Bedrohlichkeit der schwedischen Natur, wird auch mit „Jerusalem“ fündig.

Bild: wiki, gemeinfrei.

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