Preisfrage: Welcher ist der bedeutendste deutschsprachige Roman seit 1945? Natürlich gibt es da nur eine sinnvolle Antwort: Uwe Johnsons Jahrestage, vier Bände, erschienen zwischen 1970 und 1983, 1.700 Seiten, eine unglaubliche literarische Tat dieses großen Autors, faszinierend auch noch im Jahr 2024. Umso seltsamer, dass dieses Werk nie so bekannt wurde, wie es ihm eigentlich gebührt – man kann lange rätseln, warum das so ist, denn ein Marathon ist Proust schließlich auch. Wer also bislang vor diesem Trumm zurückgeschreckt ist, sollte sich endlich einen Ruck geben und – es ist wirklich nicht schwer, versprochen! – Stück für Stück eintauchen in die transatlantische Welt der Gesine Cresspahl und ihres Vaters Heinrich, zwischen Mecklenburg und New York, zwischen Nazideutschland und Amerika 1967/68. Wer aus Johnsons Kosmos dann wieder auftaucht, wird Deutschland im abgründigen 20. Jahrhundert besser begreifen und zugleich genauer verstehen, welche verrückten Sprünge durch die Zeit Eltern und Großeltern hinter sich gebracht haben.

Pünktlich zu einem kleinen Johnson-Jahr (vor 40 Jahren starb er einsam und vom Alkohol zugerichtet im englischen Sheerness-on-Sea, vor 90 Jahren wurde er im pommerschen Cammin geboren) haben sich Caren Miosga und Charly Hübner für dieses Werk begeistern lassen: Die langjährige Tagesthemen-Moderatorin hat sich mit dem Schauspieler ins Studio gesetzt und das Mammutwerk eingelesen, ungekürzt, unglaubliche 74 Stunden lang. Es gibt jetzt also dank zweier prominenter Johnson-Botschafter die akustische Möglichkeit, die Jahrestage kennenzulernen.

Charly Hübner, der gebürtige Mecklenburger, erzählt ruhig, unprätentiös, schlicht, immer souverän – und ihm gelingen der Wechsel über den Atlantik und über die Zeiten, zwischen den Wellen der Ostsee und des Hudson, die deutsche Geschichte und das ultramoderne New York Jahrzehnte später, das Mecklenburger Platt zwischendurch, das träumerische Flüstern der Erinnerung. Die Jahrestage sind ja auch ein Medienroman; Johnson, der das Schreibprojekt während der erzählten Zeit in Manhattan begonnen hatte, machte die New York Times und ihre Texte 1967/68 zum chronologischen Rückgrat seines Romans: Geballte Gegenwart kontrastiert dazwischengeschaltet permanent mit der zauberhaften Mecklenburger Landschaft von früher, Johnsons Herkunft mit seiner Gegenwart. Vor allem diesen Part spricht die Journalistin Caren Miosga, genau, offen, unaufgeregt und doch spürbar intensiv, die aktuellen Nachrichten von damals.

Darin steckt vielleicht das Verblüffendste an diesem Großroman, wenn man ihn heute hört: seine Nähe, seine Gegenwärtigkeit. Es geht um den Rassismus in Amerika, den Krieg Israels mit den Arabern, überhaupt den Alltag des Krieges, im Vietnamkrieg der Amerikaner, um den globalen Konflikt zwischen Moskau und Washington, boykottierende Schriftsteller, protestierende Jugend – und um die deutsch-deutschen Konflikte, das Fliehen oder Bleiben, das Nachwirken der NS-Herrschaft und der DDR-Diktatur, um Verbrechen und Widerstehen. Eine konfliktreiche Gegenwart wird hier in Parallelschaltung präsentiert – Caren Miosga und Charly Hübner erzählen sie wie von heute.

Uwe Johnson: Jahrestage. Ungekürzte Lesung mit Charly Hübner und Caren Miosga; Der Audioverlag, Berlin 2023; 8 MP3-CDs, 60,– €