Manchmal, in der Straßenbahn oder im Café, streift einen plötzlich der Gedanke, wie es wäre, wenn man ab sofort im Kopf dieser Frau da schräg gegenüber feststecken würde oder im Kopf jenes alten Mannes. Und all die fremden Gedanken für immer denken müsste, die fremden Erinnerungen teilen und nie mehr in den eigenen Kopf und zu den gut bekannten eigenen Gedanken zurückkommen könnte.

Bei George Saunders kann man das schon mal ausprobieren, denn der große amerikanische Autor ist der Meister solcher Parallelwelterfahrungen, aus denen es kein Entkommen gibt. Fest eingesperrt hinter Schloss und Riegel einer – vom schweren Leben, von den Abgründen des Kapitalismus, von bösen Algorithmen – übel zugerichteten Erzähler-Innenwelt, verliert man in seinen Geschichten das Gefühl für die Außenwelt. Und glaubt allmählich, nie wieder aus diesen Erzählungen hinauszufinden, weil sämtliche Türen verschwunden sind, die von einem Wahnsystem zum nächsten führen.

Häufig hat man den seltsamen Literaturprofessor George Saunders aus dem Bundesstaat New York deswegen mit einem anderen großen Spezialisten für in sich geschlossene literarische Parallelwelten verglichen. Doch während in Franz Kafkas literarischen Wartezimmern meist ein um Fassung ringender Erzähler geduldig auf Einlass hofft, haben die Erzähler des amerikanischen Kurzgeschichtenmeisters längst jede Fassung verloren. Sie hoffen auf nichts mehr. Sie warten auf nichts, sie haben vor nichts mehr Angst. Seltsamerweise erzählen sie noch. Aber eher wie sprechende Geister in einer Flasche, die fest verstöpselt und einsam auf dem Meer treibt, weit entfernt vom Festland, auf dem es in längst vergangenen Zeiten einmal eine objektive, allwissende Erzählinstanz gegeben haben könnte. Jemand, der beurteilen konnte, wer in Saunders’ Erzählungen eigentlich so stark abdriftet: ihre verstörten Erzähler oder die Welt, von der sie erzählen? Und ob es auf diesen Unterschied überhaupt noch ankommt. Jetzt, nach der Katastrophe, die Kafkas Figuren noch bevorstand.

Zu dieser postapokalyptischen Grundstimmung passt, was der 65-jährige George Saunders, der zunächst als Geophysiker für Ölfirmen in Sumatra gearbeitet hat und jetzt kreatives Schreiben an der Syracuse University lehrt, über die Erzählkunst der von ihm bewunderten russischen Schriftsteller Anton Tschechow, Iwan Turgenjew, Leo Tolstoi und Nikolai Gogol sagte. Dass eine perfekte Erzählung nämlich ein "ethisch-moralisches Werkzeug" und deswegen ein äußerst brutales Genre sei, "so brutal wie ein Witz, ein Lied, ein Gruß von einem Schafott herunter". Womit signalisiert sei, dass wir uns bei Saunders im eher schwergängigen, karstigen Hochgelände der Gegenwartsliteratur befinden, weit jenseits der schützenden Baumgrenze. Aber die Mühe lohnt sich.

In der Titelerzählung des neuen Erzählungsbandes Tag der Befreiung erzählt ein von einem Programmierer gesteuerter Textarbeiter aus der Ichperspektive. Wie die meisten Erzähler bei George Saunders ist er ein beinahe nicht mehr menschliches Wesen, das in diesem Fall durch "Futterschläuche" ernährt wird und mit x-förmig ausgestreckten Armen und Beinen an einer "Wand des Kündens" befestigt ist – ein so trostloses wie komisches Inbild der ans Kreuz des Digitalen geschlagenen Geschöpfe Gottes. Durch technische Impulse gereizt, produziert dieser Erzählsklave zu Schlagworten Textlandschaften, Wildweststorys oder erotische Minnegesänge, auf Knopfdruck auch in jambischen Parametern. Eine Parodie auf die gegenwärtige literarische Massenunterhaltungsindustrie. Als ein Revolutionskommando anrückt, um den ferngesteuerten Literaturproduzenten in die Freiheit eines unentfremdeten Lebens zu entlassen, kann er sich darunter nichts Erfreuliches vorstellen. Er liebe seinen Programmierer, verkündet er scheinbar eigenmächtig, das müsse man ihm glauben, denn sein Erzählprogramm stehe gerade auf Pause.

Mithilfe welcher Programmtasten die Erzählung aus dem Innersten dieser Erzählknechtschaft zustande kam, lässt sich im System der Erzählung selbst nicht erkennen, denn der Erzähler ist ein Teil dessen, was er beschreibt. Doch sind es stets die sogenannten unzuverlässigen Erzähler mit ihrer, George Saunders nennt sie "Substandard-Redeweise", denen man ausgesetzt ist. Selbst in seinem mit dem Booker-Preis ausgezeichneten einzigen Roman Lincoln im Bardo war es so, einer grotesken Textcollage, in der ein Chor der Toten und Phrasenproduzenten über die Grablegung des kleinen Sohns von Abraham Lincoln wild durcheinandersalbaderte, als sei er so etwas wie die Prosaversion der Relativitätstheorie. Immer sind es die Idioten, die Vernagelten und Manipulierten, die bei Saunders ihre faszinierende Erzähldiktatur der Armleuchter errichten, um uns ein Licht aufzusetzen.