Gesellschaft, Philosophie, Sachbuch

Erzählen trotz allem

In ihren Wuppertaler Vorlesungen verbindet Carolin Emcke mit hohem Erkenntnisgewinn Umweltschutz und Menschenrechte. In einer von Gewalt und Klimakollaps bedrohten Gegenwart wirbt sie für wahrhaftiges Erzählen und utopisches Denken.

»Was wahr ist« steht in großen Lettern auf dem schmalen Büchlein, das die beiden Vorlesungen enthält, die Carolin Emcke im Sommer 2023 in Wuppertal gehalten hat. Kein Ausrufezeichen schließt ihn ab und auch kein Fragezeichen; vollkommen offen liegt dieser Satz auf dem Buchdeckel. Womöglich zeigt sich schon daran die Klugheit der in Berlin lebenden Publizistin, die 2016 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. In einer Zeit, in der die Komplexität der Welt kaum noch die eine Wahrheit zulässt, grenzte es an Hybris, ein Ausrufezeichen hinter so einen Satz zu machen. Ein Fragezeichen würde wiederum all die Schwurbler und Quertreiber bestätigen, die mit ihren Fakes permanent die Wirklichkeit torpedieren.

Dem ersten Satz ist aber noch ein zweiter Halbsatz zur Seite gestellt, denn Emcke wollte im Rahmen ihrer Poetikdozentur für faktuales Erzählen an der Bergischen Universität konkret »Über Gewalt und Klima« sprechen. Mit Gewalt und ihren Folgen beschäftigt sich Emcke schon seit Jahrzehnten, zwischen 1998 und 2014 war sie als Reporterin in vielen Krisengebieten unterwegs. Die Klimakrise ist hingegen »erst in den letzten fünf bis zehn Jahren in meinen Fokus gerückt«, räumt sie im Vorwort ihrer gedruckten Vorlesungen ein. In den Jahren hat sie sich nicht nur das nötige theoretische Wissen angeeignet, sondern sich auch mit den konkreten Folgen des Klimawandels auseinandergesetzt. Beispielsweise hat sie sich 2018 die schmelzenden Gletscher in der Arktis mit eigenen Augen angeschaut, das habe ihr Leben verändert.

Aushang für Emckes Poetikvorlesung an der Universität Wuppertal

Im Rahmen ihrer Poetikdozentur führte sie das Erzählen über Gewalt und das Erzählen über Klima eng zusammen. Ihre Ausführungen sind als eine Intervention in einer von Fake und Fiktion, Manipulation und Polarisierung zerrissenen Gegenwart zu verstehen, in der die eine Wahrheit von den verschiedenen politischen Narrativen abgelöst zu sein scheint. Zugleich haben die Ereignisse im Nahen Osten seit dem 7. Oktober so manche Wahrheit auf den Kopf gestellt. Umso erfreulicher ist die Klarheit, mit der Emcke die Untiefen eines wahrhaften Erzählens über Gewalt und Klima vermisst und Antworten auf die dringlichen Fragen unserer Zeit findet.

»Wir erzählen immer auch für die, die nach uns kommen und die sich fragen, wie geschehen konnte, was geschehen sein wird«, macht Emcke gleich zu Beginn ihrer Ausführungen deutlich und nimmt so gleich die Grundsatzfrage nach dem Sinn des Erzählens vom Tisch. Was aber noch nicht die Frage beantwortet, warum überhaupt erzählt werden sollte. Die Antwort darauf liefert Emcke in dem vor wenigen Monaten erschienenen Gesprächsband »Für den Zweifel«. Dort beschreibt sie das Erzählen als Aktivität des Widerstands gegen Tyrannei und Willkür, als Zeugenschaft für das Unsagbare.

Carolin Emcke: Was wahr ist. Über Gewalt und Klima. Wallstein Verlag 2024. 122 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen.

Durch das Erzählen werde die Tatsache aufgeworfen, erklärt sie da, »dass es Erfahrungen geben kann, die sich nicht sofort beschreiben lassen, ja, dass es Erfahrungen gibt, die sich nicht einmal sofort verstehen lassen, weil sie uns überfordern, weil sie alles das außer Kraft setzen, was sonst gilt, weil sie alle Erwartungen an das, was Menschen einander antun können, übersteigen – das ist ungeheuerlich. Weil es letztlich bedeuten kann, dass Verbrechen nicht bezeugt werden können, dass die Erfahrungen von Folter, von physischer und psychischer Qual, von Erniedrigung und sexualisierter Gewalt nicht erzählt werden. Das ist natürlich genau die Absicht der Täter: alle Spuren ihrer Taten zu tilgen, die Opfer so zu versehren, dass sie nicht mehr Auskunft geben können über das, was ihnen angetan wurde. Das ist ultimative Vernichtung – und auch eine Gerechtigkeitsfrage.«

Emcke stemmt sich mit dem Erzählen gegen diese ultimative Vernichtung. »Mein ganzes Schreiben über Gewalt entspringt der Überzeugung, dass alle Ereignisse beschreibbar sind, dass die Innen-Zeug:innen erzählen können, wenn man ihnen nur ernsthaft zuhört, und dass es auch verstehbar und erzählbar ist für mich, als Reporterin, als Autorin«, erklärt sie in dem Gesprächsband ihrem Gegenüber, dem Schweizer Literaturwissenschaftler Thomas Strässle.

Bei ihren Ausführungen zum Erzählen über Gewalt stützt sie sich auf ihre Erfahrungen im Kosovo, Irak oder in Afghanistan. »Mein eigenes Schreiben im Kontext von Krieg und Gewalt war (und bleibt) erfüllt von den Zeugnissen von Überlebenden«, schreibt Emcke und macht so deutlich, dass die Berichte der Menschen, die Krieg und Gewalt ausgeliefert sind, für sie entscheidend sind auf der Suche nach dem, was wahr ist. Dabei gelte es nicht nur, genau hinzuhören und die Dinge einzuordnen, sondern sich mit den Dingen vertraut zu machen, als ob sie die eigenen wären und sie zugleich als Erfahrung einer anderen Person auszuweisen.

Dies scheint leichter gesagt als getan, das Ausmaß an Brutalität in Kriegsgebieten übersteige oft das Vorstellungsvermögen, weiß Emcke aus eigener Erfahrung zu berichten. Der kognitive Widerstand, der sich vor dieses unvorstellbare Grauen stellt, sei ein trügerischer Selbstschutz, denn er versperre auch den Blick darauf, was wahr ist. Dies gelte auch für die Ambivalenz des Krieges, in dem nicht nur getötet, gestorben und geweint wird, sondern auch gescherzt, gelacht und gelebt wird. Deshalb gehöre es zum wahrhaftigen Erzählen über Gewalt, gegen die verkürzten Vorstellungen davon, wie ein Kriegsgebiet auszusehen oder wie ein Mensch mit Gewalterfahrung zu sprechen habe, »eine erzählende Form zu finden, die Ungleichzeitigkeiten in diesen Gegenden respektvoll und wahrhaftig zu beschreiben. Ohne Zynismus. Ohne Verschlichtung.«

Carolin Emcke, Thomas Sträßle: Für den Zweifel. Fischer Verlag 2023. 160 Seiten. 14,- Euro. Hier bestellen.

Oder wie es im Gesprächsband heißt: »Diejenigen, die stottern oder aufschrecken, die Lücken haben und Pausen machen, die rückwärts erzählen oder ein traumatisches Erlebnis nur in Chiffren umkreisen können – sie liefern für mich durchaus angemessene Beschreibungen für ihre Erfahrung.«

Das Erzählen über Gewalt erfordere vor allem Diskretion. »Wer ethisch erzählen will, muss schweigen können. Wer von Gewalterfahrungen anderer erzählen will, muss weglassen und verzichten können.« Nicht alles, was einem anvertraut wird, will erzählt werden, sei es, weil die erlebte Entrechtung noch keine verständliche Form gefunden hat, sich die erzählende Person selbst beschädigt oder schlichtweg in Gefahr bringt. Würde sie jemand fragen, was an ihrem Schreiben über das Leid anderer entscheidend war, resümiert Emcke in ihrer Vorlesung, dann wäre es nicht etwas, »was ich geschrieben, sondern immer nur, was ich nicht beschrieben habe, was verschwiegen blieb.«

Es ist ein schmaler Grat, auf dem dieses Erzählen stattfindet, denn nichts desto trotz braucht es all die Details, auf die man stößt. Es bedarf Mut, ästhetisch gegen das Totalitäre der Gewalt Position zu beziehen. Der Blick in den Abgrund ist zwingend, um die Menschen in der Geschichte zu verankern. Um zu erzählen, wer sie vor dem Krieg waren und wer sie in einer besseren Zukunft sein könnten. Denn nur so werde sichtbar, wie die Gewalt sie entmenschlicht und den Maßstab verschoben hat, was normativ wahr ist und sein sollte.

Dieser universale Glaube an die Utopie prägt auch Emckes Blick auf das Erzählen der Klimakrise. Dieses Erzählen sei unweigerlich nach vorn gerichtet, auf das, was wahr sein wird. Auch wenn es dabei ein wenig um den Blick in die Glaskugel geht, handle es sich dennoch um faktuales Erzählen, so Emcke, denn wenngleich Prognosen und Modellierungen von einer Vielzahl von Variablen abhängig sind, »bestimmte physikalische Gesetze lassen sich nicht aushebeln«. Aufgabe derjenigen, die davon Erzählen, ist es, die Skalen und Zahlen in (Be)Greifbares zu übersetzen.

Erschwert werde das von einem Spektakel der Verschleierung, mit dem im politisch-medialen Feld gegen die Erkenntnis vorgegangen wird. »Wir verrätseln unsere Katastrophe, um uns unsere Normalität nicht als permanente Irritation zumuten zu müssen«, zitiert die Autorin Jan Philipp Reemtsma. Wir lassen uns lieber mit beschwichtigendem Unsinn berieseln, als uns ehrlich in die Augen zu schauen und unser eigenes Versagen zu reflektieren, so Emcke. Diejenigen, die die fatalen Folgen unserer ignoranten Lebensführung vor Augen führen, würden von Springer und Co. dämonisiert.

»Was sich da Woche für Woche entlädt, wie da die Aktivist:innen kriminalisiert und dämonisiert werden, wie alle, die sich mit ihrer politischen, ihrer akademischen, ihrer publizistischen, ihrer performativen Kraft dem Klimaschutz verschrieben haben, wie da alle, die nicht etwas zerstören, sondern retten wollen, als mutmaßlich gefährliche Feinde konstruiert werden, ist nicht einfach politisch kontrovers, das ist nicht einfach rhetorisch scharfe Kritik oder Auseinandersetzung, das ist verantwortungsloses Vorbereiten von Gewalt«, macht Emcke deutlich.

Publikationen von Carolin Emcke

Zugleich sieht sie auch Fridays for Future in der Pflicht, die seit dem 7. Oktober Zweifel hat aufkommen lassen, ob ihr normatives Fundament tatsächlich ein universalistisches oder nicht doch ein selektiv-humanistisches ist. Allen voran Greta Thunberg, die mit allerlei undifferenzierten Aussagen aufgefallen ist.

Zum anderen appelliert sie an die Klimabewegung, den Klimaschutz nicht nur unter den Vorzeichen einer unvermeidlichen Katastrophe, sondern als Möglichkeit eines anderen solidarischeren Lebens zu erzählen. Hier wird das faktuale Erzählen zumindest partiell vom Wunschdenken abgelöst, denn ob unter den Vorzeichen des Klimawandels tatsächlich die Solidarität und nicht der Darwinismus Oberhand gewinnt, steht in den Sternen. Ein anderer Hinweis scheint hier deutlich hilfreicher. »Jenes Sprechen, das wissend daherkommt, jene Visionen, die fertig daherkommen, behaupten sich als abgeschlossen. … Das lädt niemanden ein. Da entwickelt niemand Lust, sich zu beteiligen«.

Die Erzählung vom Klimaschutz müsse allem Gegenwind zum Trotz durchlässig bleiben, durchlässig für Kritik und andere Ideen, damit es einen Möglichkeitsraum öffnet und andere einbindet, so Emcke am Ende ihrer zweiten Vorlesung. »Es braucht ein Erzählen, das gleichermaßen wahr und utopisch ist, das der Apokalypse und der Gewalt absagt und schreibend das begründet, was es herstellen will: Humanität.« Nur dann werden wir eines Tages feststellen, dass das, was einst utopisch war, wahr ist.