Der unvollendete Mann

Michael Kumpfmüller erzählt in seinem neuen Roman von der unsentimentalen Erziehung eines Mannes. Am Ende kommt er zum Ergebnis, dass der Mensch Gottes unvollendetes Geschöpf bleibt.

Roman Bucheli
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Jede Paarbeziehung ist im Grunde eine Dreiecksbeziehung – und Beziehungskonflikte gibt es bei Michael Kumpfmüller in allen Generationen. (Bild: Meyer / Tendance Floue)

Jede Paarbeziehung ist im Grunde eine Dreiecksbeziehung – und Beziehungskonflikte gibt es bei Michael Kumpfmüller in allen Generationen. (Bild: Meyer / Tendance Floue)

Der Mensch entkommt sich ein Leben lang nicht. Das Urteil des Daseins lautet stets auf lebenslänglich. Es gibt nur die Wiederholung des Immergleichen. Solches behauptet der Ich-Erzähler von Michael Kumpfmüllers neuem Roman zwar nicht geradezu. Aber er lebt es vor. Kein Wunder also, denkt man sich, geistert Max Frisch mit seinem Tagebuch durch Michael Kumpfmüllers Roman, der von dieser Diskrepanz zwischen der vorgespurten Biografie und dem nie erlöschenden Wunsch nach existenzieller Selbstbestimmung handelt.

Und gewiss wird es auch kein Zufall sein, dass die Hauptfigur in «Die Erziehung des Mannes» ein Künstler ist: Georg komponiert – und nach anfänglichen Schwierigkeiten durchaus auch mit anhaltendem Erfolg. Die frei schwebende Existenz ausserhalb der bürgerlichen Ordnung war schon immer der exemplarische Testfall und die moralische Herausforderung für das traditionelle soziale Gefüge und die dominanten Rollenbilder. Kumpfmüllers Komponist steht genau auf der Kippe: Der Bürgerssohn betreibt seine Rebellion gerade einmal innerhalb folkloristischer Grenzen. Am Ende ist er ein durch und durch verbürgerlichter Künstler.

Neurotisch statt erotisch

Nun braucht man in Georg nicht gleich einen Wiedergänger Max Frischs zu erkennen. Aber die Anlehnung liegt gleichwohl auf der Hand, und sie hilft beim Verständnis einer Figur, die ein Leben lang den Ausbruch aus dem Gefängnis des Daseins probt und sich weigert, dieses als ein Verhängnis anzuschauen. «Die Gefangenschaft war beendet», heisst es einmal ganz zuversichtlich in Kumpfmüllers Roman. Der Leser weiss natürlich: Die Gefangenschaft endet nie. Schon gar nicht in einem Roman, der Max Frischs Tagebücher anruft. Das Dasein kennt nur Verwandlungen, jedoch nicht den grossen Befreiungsschlag. Von nichts anderem handelt Max Frischs Werk – und sein Leben war mitunter die schönste wie zugleich schmerzlichste Anschauung dafür.

Vielleicht hat Michael Kumpfmüller den falschen Titel gewählt für seinen Roman. Was darin von der «Erziehung des Mannes» erzählt, gehört einerseits und hauptsächlich zum larmoyanten Teil des Romans. Denn darin schildert er die «éducation sentimentale» seiner Hauptfigur: von der Pubertät bis ins fortgeschrittene Alter um Mitte sechzig herum. Das folgt nun allerdings keineswegs einem irgendwie sentimentalen und schon gar nicht einem sinnlich oder erotisch besonders subtilen Programm. Das Drehbuch dieser «Erziehung» schreiben vielmehr und ausschliesslich neurotische Frauen, denen Georg regelmässig zum Opfer fällt. Das wirkt in dieser Häufung recht einfallslos und auch wenig anregend.

Doch der Erziehung des Mannes – dieses Mannes – haben sich auch die Kinder angenommen. Und hier nun freilich werden die Beziehungen komplex, hier entfaltet sich der Roman zu einer offenen Vielschichtigkeit. In einem Gespräch über seine Arbeit kurz vor der Uraufführung seines ersten grösseren Werkes kommt Georg auf seine Kinder zu reden. Darin äussert er ganz unerwartet diesen erstaunlichen Satz: «Kinder brächten den Tod ins Spiel, sagte ich, man begreife, dass man nicht unendlich Zeit hat.» Die Vergänglichkeit und die Endlichkeit der Zeit, das Dasein zum Tode und die unsinnige Hoffnung auf eine Unendlichkeit, das schöpferische Werk, die Kinder und darin die Ahnung eines Fortlebens nach dem Tod: Darüber weiss dieser Roman weit mehr und Genaueres zu erzählen als über die etwas plakativ und reisserisch annoncierte Erziehung des Mannes.

Mit einem erzählerischen Kniff reisst Kumpfmüller die anfänglich bieder und fadenscheinig konstruierte Dramaturgie des Romans auf. Während der erste Teil von Georgs Pubertät bis zu seiner Trennung von der Frau und den drei Kindern reicht, blickt der zweite Teil zurück auf Georgs Kindheit und Jugend. Unvermittelt rücken nun die Beziehungskonflikte der Eltern in den Mittelpunkt. Schliesslich greift ein dritter Teil weiter voraus, da Georgs Kinder erwachsen werden und nun ihrerseits die Erfahrungen einer unsentimentalen Erziehung mit dem anderen Geschlecht machen.

Damit wird das biografische Gefängnis zum anthropologischen erweitert. Die Geschichten wiederholen sich nicht nur im eigenen Leben, sie wiederholen sich mit deprimierender Zuverlässigkeit von Generation zu Generation. Es kann nicht nur dieser Mann seinem Schicksal nicht entrinnen, der Mensch überhaupt kann nicht anders, als die immergleichen Fehler zu begehen und in die immergleichen Fallen zu treten. Das steht gleichsam in seinem genetischen Code festgeschrieben. Das wäre freilich für einen Roman eine dürftige Einsicht und noch immer von lähmender Larmoyanz. Tatsächlich entgeht Kumpfmüllers gelegentlich etwas gar nüchternes Protokoll von der Unfähigkeit zum Glück nicht vollends dieser Gefahr. Und zugleich mutet ein bescheidenes Lebens- und Liebesglück am Ende an, als hätte es ein Paartherapeut dem Schriftsteller in die Feder diktiert.

Hier wie andernorts fehlt dem Roman die Schärfe und vielleicht auch die Gnadenlosigkeit eines Erzählers, der seine Figur an den Rand und zuletzt darüber hinaus treibt, um mit ihr die Schmerzgrenzen des Daseins zu erkunden. Das beginnt mit Georgs Künstlertum, das zwar ganz unspektakulär und ohne Klischees inszeniert wird, aber doch lediglich Staffage bleibt und die Figur nicht prägt. Es zeigt sich auch an den Beziehungskonflikten, die Georg vornehmlich mit seinen Frauen austrägt: Zu penetrant sind da die Rollen verteilt zwischen Opfer und Täter, hier der verständige Georg, da die irrationalen, bisweilen boshaften Frauen.

Der Mann ist nie fertig

Da hätte der Autor seinerseits boshafter und durchtriebener sein dürfen. Er hätte seinen Helden getrost durch eine Hölle schicken können, ehe er ihm einen Ruhestand im Idyll zuteilwerden liess. Allein, die Erzählperspektive wird solches verhindert haben. Michael Kumpfmüller hat sich in diesem Roman die Sicht seiner Figur so sehr zu eigen gemacht, dass er zu ihrem Komplizen wurde. Als hätte er sich ein Erzählprogramm vorgenommen, das nun einmal abgewickelt werden muss, pflügt er sich durch seinen Fragenkatalog: Was geschieht bei der Mannwerdung? Wie wird aus dem Jugendlichen ein Mann? Wann und wo vollzieht sich die Verwandlung?

Das Ergebnis dieser erzählerischen Recherche ist so banal wie gleichzeitig verblüffend naheliegend: Der Mann ist nie fertig. Er bleibt auf immer das unvollendete Geschöpf. Vielleicht besteht das tiefere Problem dieses Romans darin, dass der Autor (wie sein Ich-Erzähler) schon zu Beginn keine Zweifel hegt, wohin die Sache steuern soll. Nämlich in ein ahistorisches Präsens am Schluss, da die Zeit stillgestellt und der Tod aufgeschoben scheint. Und alle Verwandlung aufhört. Das sieht nach einem schönen Leben aus. Aber es ist in Wahrheit das Ende. Hier, ganz zuletzt, verzerrt sich das Bild zur bösen Karikatur. Vielleicht sogar, wer weiss, gegen den Willen des Autors, aber zum Besten des Buchs.