Keine Blumen für Mama

Die vielfach preisgekrönte britische Autorin Hilary Mantel wurde insbesondere durch ihre historischen Romane bekannt. Nun liegt auch ihr Debütroman, eine sinistre Sozialstudie, auf Deutsch vor.

Michael Schmitt
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Hilary Mantels Protagonisten sind in ihrem Umfeld stets Opfer und Täter zugleich. Sie erhalten Fassaden aufrecht und schauen weg, wenn diese Fassaden zu bröckeln beginnen. (Bild: Imago)

Hilary Mantels Protagonisten sind in ihrem Umfeld stets Opfer und Täter zugleich. Sie erhalten Fassaden aufrecht und schauen weg, wenn diese Fassaden zu bröckeln beginnen. (Bild: Imago)

Das 20. Jahrhundert werde «das Jahrhundert des Kindes» sein, verkündete die schwedische Erziehungswissenschafterin Ellen Key im Jahr 1900. Kinder würden künftig als Wesen von eigenem Recht und nicht als kleine Erwachsene gesehen werden. Ihnen werde zugestanden, sich auch «schlimm» zu verhalten. Lehrer mit Burnout-Syndrom oder Mütter, die sich von der grassierenden «Regretting Motherhood»-Bewegung verstanden fühlen, singen heute vielleicht ein Klagelied darüber, zu welchen Auswüchsen das geführt hat.

Verpfuschte Leben

Aber wer würde dabei an ein Kind wie Muriel denken: geboren 1940, mittlerweile Mitte dreissig, ungeschlacht, in seltsame Kittel gekleidet, meist stumm, anscheinend in der psychischen Entwicklung stark beeinträchtigt, unheimlich und in den Worten von Hilary Mantel kurz und knapp: «passiv aggressiv».

Dieses Wesen ist die zentrale Gestalt in «Jeder Tag ist Muttertag» – dem Roman, mit dem die mittlerweile vielfach ausgezeichnete Autorin 1985 debütierte. Muriel und ihre Mutter, die seit Jahrzehnten abgeschottet in ihrem Haus in einem besseren Viertel einer britischen Kleinstadt leben, werden zum Kondensationskern einer bitterbösen Geschichte, bei der es nicht nur um klaustrophobische Mutter-Tochter-Beziehungen geht, sondern auch um das verpfuschte Leben eines ganzen Mittelschicht-Milieus. Um eine zugespitzte Darstellung menschlicher Schwächen, um Desinteresse und Versagen gegenüber anderen, um mangelnde Anteilnahme. Eine Satire, erklärt Hilary Mantel anlässlich der jetzt erschienenen deutschen Übersetzung, die Werner Löcher-Lawrence besorgt hat. Aber eben eine Satire im britischen Stil, gnadenlos, zuweilen jenseits der Grenze, die befreiendes Lachen von Beklemmung trennt.

Muriels Mutter Evelyn, mittlerweile eine alte Frau, hat ihre Rolle gegenüber der Tochter niemals angemessen ausgefüllt. Der Ehemann und Vater ist früh verstorben; seither machen die beiden einander das Leben zur Hölle. Evelyn sperrt die Aussenwelt, Nachbarinnen genauso wie Sozialarbeiterinnen, konsequent aus. Muriel streicht durch die Zimmer wie ein Gespenst, und niemand weiss, was sie umtreibt – aber mit einem Mal ist sie schwanger. Vermutlich ist sie schon in der Kindheit emotional verhungert und zahlt es der alten Frau nun mit rätselhaften Aktionen im Haus heim.

Aber der Roman ist keine psychologische Studie, also löst er seine Rätsel nicht. Der Leser kann durchaus entsprechende Theorien an die Geschichte herantragen, darf sich aber auch mit gleichem Recht einfach dem Reigen von Katastrophen überlassen, die Hilary Mantel mit Muriels und Evelyns Alltagsdrama verknüpft: etwa der Geschichte von Isabel, einer jungen Sozialarbeiterin – vielleicht der einzigen sympathischen Figur im Roman –, die im Auftrag des Sozialamtes Muriel zu betreuen versucht, sich dann aber in einer Affäre mit einem verheirateten Mann verliert, der seinerseits vor Gattin und Kindern fliehen möchte.

Hilary Mantels Protagonisten sind in ihrem Umfeld stets Opfer und Täter zugleich. Sie erhalten Fassaden aufrecht und schauen weg, wenn diese Fassaden zu bröckeln beginnen. Sie stellen Ansprüche, wollen aber selbst möglichst wenig geben. Die Angebote, die der Roman dem Leser macht, um sich in diese erstickende Welt zu versetzen, sind breit gestreut. Sie reichen von der erwartbaren Dynamik einer unglücklichen Liebelei über die stumme Verbissenheit des Duos aus Mutter und Tochter bis zum latenten Horror, der aus Evelyns Hang zum Übersinnlichen erwächst. Unsichtbare Fremde seien im Haus zugange, mutmasst sie, wenn sie schwer erklärbaren Zeichen oder unangenehmen Schikanen ausgesetzt ist. Doch das Unerklärliche, mit dem Evelyn sich herumschlägt, während Muriel sie beobachtet, ist nichts anderes als die Wiederkehr des unausgesprochenen Elends dieser Familie; und indem Evelyn es als unerklärlich akzeptiert, überlässt sie sich und ihre Tochter einem eingeübten, wenn auch fatalen Ausweichen vor der Wahrheit über ihr Zusammenleben.

«Jeder Tag ist Muttertag» mischt Realismus im Ganzen und eine unaufgelöste Anbindung an übersinnliche Phänomene im Detail mit wechselnden Erzählperspektiven und unterschiedlichen Zungenschlägen: Einmal zitiert der Roman amtliche Schreiben, dann wieder die Innensicht permanent unfroher Protagonisten, oder er fühlt sich tastend in den dunklen Kern von Muriels Persönlichkeit ein. Das ist zuweilen etwas holprig montiert und als Satire noch nicht so geschliffen wie etwa Mantels skandalträchtige Geschichte «Die Ermordung Margaret Thatchers» aus dem Jahr 2013.

Schreckensbilder der Kindheit

In ihrer Autobiografie «Von Geist und Geistern» (dt. 2015) hat die Schriftstellerin von Schreckensbildern ihrer eigenen Kindheit berichtet, von einer Erscheinung, die sie als kleines Mädchen in einem Garten hatte, einer Art furchterregendem wirbelndem Schatten. Der Muttertag, so wie sie ihn begeht, erinnert daran: Der Seele ihrer Protagonisten hat er sich für immer eingeschrieben, als Leser verfolgt man das mit Staunen und Schrecken.

Hilary Mantel: Jeder Tag ist Muttertag. Deutsch von Werner Löcher-Lawrence. Dumont-Verlag, Köln 2016. 256 S., Fr. 28.90.