Basiatörtchen ohne Lindenblütentee

Niemand kannte den Ort Walbrzych, bevor Joanna Bator ihn zum Schauplatz von drei Romanen machte, die weltliterarischen Rang haben. In allen verschränkt sich das Persönliche mit dem Fiktiven.

Jörg Plath
Drucken
Erhaben, aber auch dämonisch – das nördlich der Stadt Walbrzych (Waldenburg) gelegene Schloss Fürstenstein, das grösste Schloss Schlesiens. (Bild: Kacper Pempel / Reuters)

Erhaben, aber auch dämonisch – das nördlich der Stadt Walbrzych (Waldenburg) gelegene Schloss Fürstenstein, das grösste Schloss Schlesiens. (Bild: Kacper Pempel / Reuters)

Joanna Bator liebt das Licht. Im Restaurant von Schloss Fürstenstein zieht sie den Gartenstuhl in die pralle Sonne, und in jedem ihrer Romane hat sie das sonnendurchwärmte Griechenland untergebracht – auch wenn das Zentrum von «Sandberg», «Wolkenfern» und «Dunkel, fast Nacht» die polnische Provinz ist: Walbrzych südwestlich von Wroclaw, Breslau, nahe Tschechien und Deutschland. Joanna Bator ist hier aufgewachsen und hat die Stadt in die Weltliteratur hineingeschrieben. Nun ist die so zierliche wie energische 48-Jährige zurückgekehrt in das frühere niederschlesische Waldenburg zu einer Begegnung mit persönlichen und fiktiven Orten.

Schloss Fürstenstein, Zamek Ksiaz, thront über der früheren Kohlestadt. Das gewaltige Loch im Hof, von den Nationalsozialisten als ein mit Auto nutzbarer Zugang zu den Tunneln unter Walbrzych vorgesehen, musste vor Jahren aufgefüllt werden. Immer wieder sollen sich verängstigte Touristen beklagt haben, just neben ihnen sei eben eine Blume in der Tiefe verschwunden.

Poröse Stadt

Düstere Geschichten dichtet Bator Walbrzych in «Dunkel, fast Nacht» an: Die Journalistin Alicija Tabor fährt in ihre Geburtsstadt, um nach verschwundenen Kindern zu recherchieren. Sie zieht in das seit langem leerstehende, muffig riechende Elternhaus mit Blick auf Schloss Fürstenstein und stösst auf einen Hexenkessel. Die Walbrzycher hetzen gegen alles Fremde, manche gar gegen Jesus Christus – der war ja kein Pole.

«Dunkel, fast Nacht» präsentiert eine poröse Stadt: unterhöhlt durch die Stollen der jahrhundertelangen Kohleförderung und die von Häftlingen des KZ Gross-Rosen ausgehobenen Tunnel, durchzogen von deutsch-polnischer Geschichte und ebenso langlebigen Neurosen. Nach 1945 gruben die umgesiedelten Polen in den Gärten der vertriebenen Deutschen nach zurückgelassenen Schätzen. Noch immer wird nach Hitlers mythischem Goldzug gesucht. Für ihr raffiniertes Spiel mit Oberfläche und Untergrund verschneidet Bator den Schauerroman mit dem phantastisch-magischen, den historischen mit dem Zeitroman, zeigt im Trauma den Traum – und im Traum den Schrecken.

Ein Elternhaus mit Blick auf Schloss Fürstenstein hatte die Autorin nicht. Sie wuchs bei den Grosseltern in Nowe Miasto, Neustadt, auf, am anderen Ende von Walbrzych, das auf sieben Hügeln – wie Rom!, versichern Ortsansässige – erbaut und entsprechend weitläufig ist. Verstreut am Hang, gegenüber einer steil ansteigenden Wiese mit braunen Kühen, stehen dreigeschossige, sehr schmale Mehrfamilienhäuser in grauem Rauputz. Dunkler Schlackengrus bedeckt den Hofboden, Kinder spielen neben parkierten Autos.

Vor einem Haus zeigt Joanna Bator nach oben: «Da, im zweiten Stock, wohnte ich. Mein Zimmer war rechts, dann kam die Küche, eine Speisekammer, das Badezimmer.» Ein zweites Zimmer liegt nach vorn, zur Strasse. Die Grosseltern kamen aus dem heute weissrussischen Radom nach Walbrzych, aus den «verlorenen Gebieten» in die «wiedergewonnenen», weil die Grossmächte Polen 1945 zerstückelt und nach Westen verschoben hatten. Die von der Sowjetunion okkupierten östlichen Kresy galten den Umgesiedelten als gelobtes Land. In den Häusern und Wohnungen der vertriebenen Deutschen wurden sie nicht heimisch. Sie hatten alles verloren, sogar ihre Toten.

Joanna Bator erinnert sich gut an die Gegenstände und Möbel der Deutschen in der Wohnung. «Es gab einen grossen Schrank, in dem ich gern sass und mir eine Freundin erfand, Helga. Und einen faszinierenden Punschtopf. Meine Grosseltern wussten nicht, welchen Zweck er hatte.» Der Punschtopf diente ihr als Spielzeug und Aquarium. Er sei mit den Jahren immer schwerer geworden, heisst es im Essay «Im ehemals deutschen Schrank»: dank Geschichten.

Ein leeres Fotoalbum – die Deutschen hatten die Fotografien mitgenommen – in der Wohnung der Grosseltern hat Bator in ihren Roman «Sandberg», der von der Kindheit und der Jugend Dominika Chmuras in Walbrzych erzählt, aufgenommen. Im Roman enthält das Album Aufnahmen einer unbekannten Familie aus den Kresy. Weil Dominika neugierig fragt, erfindet ihre Grossmutter Halina Geschichten zu den Fotos und klebt schliesslich eigene hinzu. Die fremde Familiengeschichte wird auf phantasmatische Weise Teil der eigenen.

Auf «Sandberg» folgt in der Walbrzych-Trilogie der Roman «Wolkenfern» mit Dominikas Wanderjahren in der Bundesrepublik, den USA, Griechenland und anderen Ländern. Mit Napoleons Nachttopf, der in «Wolkenfern» von Hand zu Hand und durch die Jahrhunderte geht, erzählt Bator vom Judenmord in Polen, von der Hartherzigkeit polnischer Nachbarn und einer geglückten Flucht in die USA. Für burleske Höhepunkte des auf alle Wahrscheinlichkeit pfeifenden Geschichtengewebes sorgt eine schwarze Tänzerin. Sie vernascht Kaiser Napoleon, weshalb mit ihrer Urururenkelin Sara, einer Freundin Dominikas, postkoloniales Bewusstsein nach Walbrzych findet.

Im dritten Buch, «Dunkel, fast Nacht», mit phantastischen Elementen aus Lewis Carrolls «Alice im Wunderland», kehrt die Journalistin Alicija nach Walbrzych zurück. Deren Familienname Tabor ist ein unübersehbares Anagramm von Bator. «Ich begann einen Prozess der Wiedergewinnung meiner verlorenen Gebiete, in die ich nie zurückkehren wollte und will», schreibt sie in «Im ehemals deutschen Schrank».

Dezidiert weiblich

Die dezidiert weibliche Aneignung von Geschichte und Identität geschieht aus der Ferne: «Sandberg» und «Dunkel, fast Nacht» fallen Bator in Tokio zu, wo sie nach Stationen in England und Nordamerika als Kulturanthropologin forscht – lange vor dem Wahlerfolg der PiS, deren chauvinistisches, fremdenfeindliches, frömmelndes Polen «Dunkel, fast Nacht» zu zeigen scheint. Nur «Wolkenfern», Dominikas Reisen durch die Welt, entsteht in – Polen. Joanna Bator bedarf zur Nähe offenbar der Distanz.

Nach sechs Jahren bei den Grosseltern finden die Eltern eine grössere Wohnung in Piaskowa Gora. Auf einem Sandberg wurde da ab den sechziger Jahren ein ganzer Stadtteil erbaut. Dort hält Joanna Bator auf den grössten Plattenbau zu: hundert Meter lang, elf Stockwerke, neun Eingänge. Babel heisst er in «Sandberg». Der Fahrstuhl ist noch der alte, staunt sie. Er stöhnt und ächzt. Im siebenten Stock lag die Wohnung mit wunderbarer Aussicht auf eine sanft geschwungene, bewaldete Landschaft, auf «Manhattan 1», die Einkaufsstrasse, und «Manhattan 2», einen Markt aus Blechhütten.

Dem Putzfimmel der korpulenten Mutter und der Apathie des zwischen Kohlegrube und Sofakuhle wechselnden Vaters entkommt Bators Heldin Dominika auf die Dachterrasse. Es gibt sie nicht mehr, und das Dach ist abgesperrt, der Selbstmörder wegen. Joanna Bator ist enttäuscht. Hier gab es Freiheit und einen freien Markt für Dollars, Drogen, drangvolle Körper.

Noch einen Fluchtort hatte die Schulschwänzerin: «Hitlers Mausoleum». «Unheimlich» findet Bator den einsam im Wald gelegenen, gedrungenen Bau mit den leeren Fensterhöhlen von 1938. Die weihevolle Ruine mit den frischen Lagerfeuerresten «wie damals» umgibt einen Hof mit wucherndem Gras. In einer Ecke der Eingang zu einem Tunnel, in dem man einst ein totes, vergewaltigtes Mädchen fand, in einer anderen das Wappen Waldenburgs, in einer Fensternische Runen von Neonazis: «Wir kommen wieder.»

Über abenteuerliche Waldwege geht es ins Zentrum. In «Dunkel, fast Nacht» hat Joanna Bator sogar ihren Lieblingskuchen verewigt, die Basiatörtchen eines Cafés. Dass in dem Laden heute sehr farbige Plastic-Blumen verkauft werden, stört sie nicht. «Ich habe hineingeblickt und den Geschmack der Törtchen auf der Zunge verspürt.» Wenige Schritte sind es zu Bators «allererster Bibliothek» am Marktplatz. «Sie war reine Magie für mich. Meine Grosseltern hatten keine Bücher, nicht ein einziges.» Bator entbietet der Bibliothek mit den vier gewaltigen Atlanten in «Dunkel, fast Nacht» einen Gruss, indem sie eine Bibliothekarin als «verrückte Transbibliothekarin» auftreten lässt – die Schulkameradin Alicijas wollte immer ein Junge sein. Solche Heterotopien kennzeichnen Orte und Personen des Widerstands.

Der von prächtige Marktplatz vor der Bibliothek gehört im Roman einem entfesselten Mob. Alicijas Recherche deckt den psychohistorischen Hintergrund der Lynchstimmung auf: Nazi-Morde, Vergewaltigungen durch Rotarmisten, Frömmelei, Chauvinismus, Antiziganismus – und verdrängte Familienerinnerungen. Joanna Bator ist nach Jahren im Ausland in die Nähe Warschaus gezogen und baut ein Haus am Waldrand. Ein neuer, vierter Roman ist fertig. Er spielt nicht mehr in Walbrzych, sondern im 55 Kilometer entfernten Zabkowice Slaskie, zu Deutsch: Frankenstein. Den Monstrositäten bleibt Bator also treu, und es sind, wie sie versichert, beileibe nicht nur romantische.