Die drei Hälften der Wirklichkeit

Die Niederländer und Flamen zelebrierten bei ihrem Auftritt an der Frankfurter Buchmesse einen heiteren Kosmopolitismus. Ihr Pavillon war ein fabelhafter Begegnungsort.

Roman Bucheli
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Die Leichtigkeit des Daseins in einer ewigen blauen Stunde zelebrieren die Niederländer und Flamen in ihrem Gastpavillon. (Bild: Imago)

Die Leichtigkeit des Daseins in einer ewigen blauen Stunde zelebrieren die Niederländer und Flamen in ihrem Gastpavillon. (Bild: Imago)

Kein Ort wirkte an der diesjährigen Frankfurter Buchmesse freundlicher als der flämisch-niederländische Pavillon. Er bildete im Tumult des Messebetriebs das ruhende Zentrum. Wer den Pavillon betrat, tauchte in eine konzentrierte Atmosphäre der Aufmerksamkeit und bewegten Stille. Eine diffuse Helligkeit erfüllte die Halle, als herrschte für immer die blaue Stunde zwischen Sonnenuntergang und nächtlichem Dunkel.

Leichtigkeit und Transparenz verhiess der fabelhaft gestaltete Raum (entworfen von The Cloud Collective, einem Zusammenschluss von Architekturbüros). Der Blick ging ins Weite und Offene des Meeres, blieb hängen an durchsichtigen Stoffbahnen. Alles ruhte – und war doch in unablässiger Bewegung. Es entstand ein Begegnungsraum, der in alle Richtungen stets durchlässig blieb und ganz unverkrampft zentrale Motive künstlerischen Schaffens sichtbar werden liess: Vorläufigkeit, Unwägbarkeit, Offenheit, Ungebundenheit.

Das Stichwort dazu hatte der Tausendsassa unter den niederländischen Schriftstellern, der 1971 in Amsterdam geborene und seit langem in New York lebende Arnon Grünberg, bereits in seiner Eröffnungsrede gegeben. Gemeinsam im Dialog mit der jungen flämischen Lyrikerin Charlotte Van den Broeck erkundete er unter anderem die Fragen nach Heimat oder Vaterland. Er kam, ohne diese namentlich zu nennen, ganz in die Nähe von Heinrich Heines Idee des «portativen Vaterlands», freilich in zeitgemässer Verwandlung: «Warum sollte nicht ein Laptop mein Vaterland sein? Ich bin ein grosser Befürworter von Vaterländern, die man mit sich herumtragen kann.»

Deutlicher hätten die Gestalter des Pavillons nicht umsetzen können, wovon Grünberg sprach. Die Moderne hat den entlegensten Ort in der Welt angebunden ans Weltnetz und den Menschen hinauskatapultiert in die fast vollständige Verbundenheit und eine gerade darum fast ebenso vollkommene Unverbindlichkeit. Jeder Ort gewinnt seine Bedeutung als Raum des Übergangs von hier nach dort und als Begegnungsort von Menschen, die in konstanter Bewegung sind, die einen freiwillig, die anderen gezwungenermassen. Wer weiss da noch, wo er oder sie hingehört?

Die Leichtigkeit des Daseins

Der luftig leichte Pavillon der Flamen und Niederländer hat dieses Daseinsgefühl ins Unbekümmerte gewendet. Nicht fahrlässig, aber mit Eleganz und einer schönen Prise Ausgelassenheit. Welche Beschwernisse mit einer solchen Existenz ebenso verbunden sind: Man hätte es in der ewigen blauen Stunde geradezu auch vergessen können.

Transparenz und Leichtigkeit verhiess der flämisch-niederländische Pavillon an der Frankfurter Buchmesse. (Bild: EPA / Frank Rumpenhorst)

Transparenz und Leichtigkeit verhiess der flämisch-niederländische Pavillon an der Frankfurter Buchmesse. (Bild: EPA / Frank Rumpenhorst)

Denn wohin man schaute in dem Pavillon, stets begegnete man einer Feier der Leichtigkeit des Daseins: ob am Zeichentisch, wo Illustratoren auf engstem Raum ihre Comics entwarfen; ob im kleinen Kino, wo witzig skurrile Porträtfilme der Autorinnen und Autoren gezeigt wurden; ob schliesslich in den vielen Gesprächen, wo den Tag lang klug und mit Sinn für Humor über Gott und die Welt debattiert wurde.

Die Leute reisen und lernen Sprachen und werden dabei nicht gleich Weltbürger, aber Kosmopoliten im schönen Sinn des Wortes.

Allein schon an der Sprachmächtigkeit der Niederländer und Flamen liess sich erkennen, dass hier ein Menschentypus heranwächst, dem die Beweglichkeit zwischen vielen Welten zur zweiten Natur werden könnte. Englisch und auch Deutsch sprechen diese Schriftsteller mit einer Selbstverständlichkeit, die selbst manchen Schweizer staunen lassen könnte vor neidloser Bewunderung.

Es handelt sich dabei nicht um eine aus der Not geborene Sprachgewandtheit aus dem Geist des Kleinstaats. Die Leute reisen und lernen Sprachen und werden dabei nicht gleich Weltbürger, vielleicht auch nicht emphatische Europäer, aber Kosmopoliten im schönen Sinn des Wortes. Von der Welt und nicht zuletzt von Europa war denn in den Gesprächen vielfach und facettenreich die Rede. Geradezu erfuhr der Besucher demgegenüber herzlich wenig von Flandern oder von den Niederlanden.

Darin spiegeln sich freilich auch historische Voraussetzungen: Belgien wie die Niederlande waren einst grosse Kolonialmächte. Diese Geschichte wirkt nach: Weil sie einerseits noch nicht in einem Masse aufgearbeitet ist, wie es historische und moralische Ansprüche erfordern. Und weil anderseits daraus den Intellektuellen und den Künstlern der beiden Länder ein Bewusstsein und eine Verpflichtung erwachsen sind, die sie eher in die Welt als nur in die eigene Kleinheit blicken lassen. Europäisch denken ist hier nicht eine leere Floskel.

Auch darum war Europa im Pavillon der Flamen und Niederländer ein herausragendes Gesprächsthema. Und fast hätte man es als eine boshafte Ironie der Geschichte betrachten können, dass zur selben Zeit in Brüssel die EU eine Sternstunde und ein Waterloo gleichermassen zu erleben drohte: indem es einer kleinen Region – Wallonien – zu gelingen schien, ein transatlantisches Freihandelsabkommen gegen den vereinten und geschlossenen Willen Europas zu Fall zu bringen. Leider hörte man dazu kein Wort. Es hätte Anschauungsunterricht für vieles bieten können.

Lotterie statt Wahlen

Was die Schriftstellerinnen, Historiker, Politologen, Journalistinnen zur Sprache brachten, war gleichwohl substanziell genug – umso mehr, wenn es die Gegenwart als Schnittpunkt verstand von Geschichte und Zukunft. Adriaan van Dis erinnerte daran, mit allerdings etwas übertrieben süffisantem Unterton, dass die Niederländer in Indonesien 6000 Kirchen gebaut hatten. Derzeit gebe es 450 Moscheen in den Niederlanden – und allerorten wähne man das Abendland darum schon dem Untergang nahe.

Die Europäer leben, so konstatierte der Schriftsteller Geert Mak, Autor von Reportagen- und Essaybänden über Amerika und Europa, in einer halben und einer umgekehrten Föderation. Es gebe ein ausgefeiltes Regelwerk in der EU, aber keine zentralen Institutionen mit robuster demokratischer Legitimation: Der Euro sei eingeführt worden ohne europäische Finanzpolitik, dem Schengenraum fehle die gemeinsame Migrationspolitik. Das europäische Projekt brauche eine tiefgreifende Rekonstruktion. Ihn erschüttere schliesslich die massive Verdrängung der grossen gemeinschaftlichen Konflikte.

Als Kassandra mit missionarischem Eifer trat der flämische Autor David Van Reybrouck auf. Er hat sich einen Namen gemacht mit einer umfangreichen Studie über Kongo, die ehemalige belgische Kolonie, und erregt derzeit Aufsehen mit dem gerade ins Deutsche übersetzten Buch «Gegen Wahlen». Er vertritt darin die Ansicht, dass die demokratischen Instrumente – Wahlen, Referenden – dem Populismus zuarbeiteten. Alle vier Jahre ein Kreuz hinter einem Namen zu machen: Das sei keine politische Partizipation.

Seine Alternative: Per Los ermittelte Volksvertreter bereiten ohne Interessenbindung, aber informiert politische Entscheidungen vor. Nur so können komplexe Fragestellungen von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern kompetent beantwortet werden; und nur so könne das Abdriften der Demokratie in Populismus verhindert werden.

Van Reybrouck bereitet ferner eine Studie über Indonesien und die niederländische Kolonialvergangenheit vor. Das Thema sei in den Niederlanden noch immer ein Tabu. Er sei glücklich, in Berlin an dem Buch arbeiten zu können, denn vorbildlich sei Deutschland in der Art, wie die Geschichte des Nationalsozialismus aufgearbeitet worden sei. Er sagte es in Frankfurt ohne jede Ironie und so treuherzig, dass man staunte.

Erfrischendes poetisches Plädoyer

Vielleicht waren die Flamen und Niederländer dann doch etwas zu ausgelassen. Vielleicht fehlte am Ende die Verbindlichkeit in der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt. Mag sein, dass die 450 Moscheen noch lange nicht die 6000 Kirchen in der einstigen Kolonie aufwiegen. Man hätte über beides diskutieren können und müssen.

Immerhin waren einige Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund zugegen. Gelegentlich aber konnte man glauben, sie seien eher Folklore. Der Flame Tom Lanoye präsentierte immerhin ein poetisches Plädoyer von erfrischender Radikalität. Die Wirklichkeit habe drei Hälften: was man sieht; was man daraus macht, wenn man darüber schreibt; was man sich wünscht. Diese über drei Ecken geführte Dialektik hätte ruhig auch noch ausgiebiger zum Zuge kommen können. Die Realität wäre vielschichtiger geworden.